© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/16 / 23. September 2016

Eine Bombardement als Nagelprobe
Die Bundeswehr in Afghanistan nach 2001 – Teil 3: Große Aufregung um den Luftangriff auf einen Tanklastzug
Gregor Maurer

Der 4. September 2009 sollte zu einem Schicksalstag im Rahmen des deutschen Afghanistan-Einsatzes werden. Taliban-Kämpfer hatten zwei Tanklaster entführt, die das Potential besaßen, als rollende Bomben unter anderem gegen das deutsche Feldlager in Kunduz eingesetzt werden zu können. Oberst Georg Klein, der deutsche Kommandeur des PRT Kunduz und gleichzeitig Kommandeur der „Task Force 47“, forderte am 4. September kurz nach Mitternacht amerikanische Luftunterstützung an. Amerikanische Kampfjets übertrugen dann in Live-Bildern das Geschehen rund um die im Kunduz-Fluß festgefahrenen Lkw in die Kommandozentrale der Task Force. 

Die Bilder zeigten gut 100 Menschen, die sich bei den Lastern aufhielten. Nach Informationen einer KSK-Einheit befanden sich darunter mehrere Talibanführer. Grundsätzlich war es ohnehin für die Soldaten fast unmöglich, zwischen sogenannten Aufständischen, also Talibankämpfern, und Zivilisten zu unterscheiden, schließlich trugen die Taliban keine Uniformen, Hoheits- oder Rangabzeichen im herkömmlichen Sinne. Genau vor diesem Problem stand nun Oberst Klein. Sollte er abwarten, bis die Tankwagen aus dem Fluß gezogen waren und dann, wie schon angedeutet, als für zahlreichen deutsche Soldaten tödliche Waffe hätten eingesetzt werden können? Ein Nichthandeln, verbunden mit deutschen Opfern, hätte in der Heimat einen medialen Aufschrei zur Folge gehabt. 

Umgekehrt war nicht klar, wie viele Zivilisten sich zu diesem Zeitpunkt vor Ort aufhielten, unabhängig von der berechtigten Frage, was um Mitternacht Nichtkombattanten in einem derartigen Kampfgebiet verloren haben. Natürlich lockte die Chance, Treibstoff abzuzapfen, allerdings verbunden mit einem hohen Risiko. Oberst Klein selbst ging nun auch ein hohes Risiko ein. Ihm war klar, daß es bei einem Luftangriff zivile Opfer geben könnte. Klein entschied sich für ein Bombardement aus der Luft, denn er mußte auch aus seinen geheimen Informationen davon ausgehen, daß nach immer wieder aktualisierter Prüfung aller Umstände ausschließlich Aufständische vor Ort waren, darunter zwei namentlich bekannte Talibanführer. Nach afghanischen Angaben hieß es dann kurz darauf, daß bei einem Nato-Luftangriff auf Anforderung der Bundeswehr mindestens 40 Menschen getötet worden seien. 

Kurz darauf begann unter der Verantwortung der Nato die Untersuchung der Ereignisse. In ihrem Abschlußbericht vom 17. September, der sich auch auf die Ergebnisse einer vom afghanischen Präsidenten Karzai eingesetzten Untersuchungskommission stützte, kam sie zu dem Ergebnis, daß bei dem Luftangriff insgesamt 100 Menschen ums Leben gekommen seien, dreißig davon Zivilisten. Die anderen 70 Toten ordnete die Nato „feindlichen Kräften“ zu. Sicherlich bleiben bis heute Fragen offen, vor allem hinsichtlich der genauen Opferzahlen. Am 19. April 2010 teilte schließlich auch die Bundesanwaltschaft mit, daß die Ermittlungen gegen Oberst Georg Klein eingestellt worden seien. Es lägen weder Verstöße gegen das Völkerstrafgesetzbuch oder das Strafgesetzbuch vor. Es habe keinerlei Anhaltspunkte für ein Kriegsverbrechen gegeben, der Angriffsbefehl war völkerrechtlich zulässig. Vielmehr wurde somit die Feststellung getroffen, daß in einem bewaffneten Konflikt eine Strafbarkeit des zum Kämpfen legitimierten Soldaten generell ausscheidet, solange er sich dabei an die Vorgaben des humanitären Völkerrechts für die Kampfführung hält. 

Keine Anhaltspunkte für ein Dienstvergehen

Die Erkenntnis, daß auch deutsche Soldaten berechtigt sind, militärische Gewalt in ihrem ursprünglichen Verständnis anzuwenden, brachte für die betroffenen Soldaten die lange eingeforderte Rechtssicherheit. Am 19. August stellte auch die Bundeswehr die disziplinarischen Vorermittlungen gegen Klein ein. Es hätten sich keine Anhaltspunkte für ein Dienstvergehen ergeben. Der damalige Wehrbeauftragte des Bundestags, Reinhold Robbe, erklärte in seinem Jahresbericht, einen Kommandeur erlebt zu haben, der „trotz der entstandenen Hektik und der eskalierenden Situation ruhig, professionell und besonnen seine Anweisungen gab“. Für Oberst Klein habe, betont auch Robbe zu Recht, „das Wohlergehen seiner ihm anbefohlenen Soldaten die allererste Priorität“ gehabt. Das Festhalten seitens der Bundeswehr an Klein war vollkommen richtig und hier die einzige Möglichkeit. Wer hätte in der Bundeswehr sonst noch freiwillig eine solche Verantwortung übernommen? Oberst Klein war in diesem Augenblick am 4. September 2009 der Tyrannei der Umstände ausgesetzt.