© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/16 / 23. September 2016

Ein Kriegsverbrechen mit fatalen Folgen
Eine militärhistorische Studie über Stalin und die Vernichtung eines sowjetischen Flottenverbandes im Schwarzen Meer 1943
Jürgen W. Schmidt

In seinem jüngsten Buch „Wir sterben, aber ergeben uns nicht – Dramen zur See im Großen Vaterländischen Krieg“ (Moskau 2015) hat der kompetente russische Marinehistoriker Kapitän zur See Wladimir Schigin nach 72 Jahren die traurige Wahrheit über die Vernichtung eines sowjetischen Schiffsverbandes im Schwarzen Meer im Oktober 1943 enthüllt. 

Damals wurden der Leader (Großzerstörer) „Charkow“ und die beiden Zerstörer „Sposobnyj“ und „Besposchadnyj“ unter hohen Personalverlusten von deutschen Sturzkampfbombern versenkt. Diese unerwarteten Schiffsverluste verärgerten Stalin derart, daß er nicht nur den Flottenchef der Schwarzmeerflotte absetzen und degradieren ließ, sondern auch den weiteren Einsatz von Überwasserschiffen im Schwarzen Meer von seiner persönlichen Genehmigung abhängig machte. Das führte folgerichtig dazu, daß die Sowjets künftig im Schwarzen Meer jedwedes Risiko scheuten und die zahlenmäßig starke Schwarzmeerflotte bis Kriegsende untätig in ihren Häfen lag. 

Begonnen hatte das Drama im Schwarzen Meer mit einer Besuchsankündigung des sowjetischen Kriegsmarineministers Flottenadmiral Nikolai Kusnezow, der Anfang Oktober 1943 die Schwarzmeerflotte unter Vizeadmiral Lew Wladimirskij inspizieren wollte. Wladimirskij ließ daraufhin eine Schauoperation vorbereiten, welche dem obersten sowjetischen Seekrieger den hohen Kampfgeist der Schwarzmeermatrosen dokumentieren sollte. Ein Schiffsverband, bestehend aus den Kriegsschiffen „Charkow“, „Besposchadnyj“ und „Sposobnyj“, hatte in der Nacht vom 5. zum 6. Oktober 1943 die in deutscher Hand befindlichen Häfen Feodossija und Jalta auf der Krim beschossen, um sie für künftige Truppentransporte unbenutzbar zu machen. 

Schaulustige Matrosen verließen ihre Posten

Allerdings war diese Seeoperation ungenügend durchgeplant. Sie geriet deshalb zu einer kompletten Katastrophe, für die sich anschließend alle Verantwortlichen der Schwarzmeerflotte gegenseitig den Schwarzen Peter zuschoben. Schon bei der Annäherung an die feindliche Küste stieß man unvermittelt auf einige deutsche Schnellboote, die man nach kurzem Artilleriegefecht großspurig als versenkt meldete, was indessen nicht zutraf. Auf den Beschuß von Feodossija verzichtete man aus Zeitmangel, da nun schon der Morgen graute. Auf Jalta wurden hingegen weit über hundert schwere Granaten abgefeuert, die zwar den Hafenanlagen keinen Schaden zufügten, dafür in der Stadt viele Häuser zerstörten oder beschädigten und Dutzende von Opfern unter der Zivilbevölkerung kosteten. Am frühen Morgen legte sich das Geschwader auf Gegenkurs, um sich wegen der gefährlichen deutschen Luftwaffe schnellstmöglich vom feindlichen Ufer zu entfernen. 

Allerdings funktionierte die Luftdeckung durch eigene Jäger nicht. Immerhin gelang es einem sowjetischen Jagdflugzeug, einen über dem Flottenverband kreisenden deutschen Aufklärer abzuschießen. Der sowjetische Geschwaderkommandant, Fregattenkapitän Negoda, befahl, die beiden Piloten aufzufischen, wobei er dann nach kurzem Verhör die beiden deutschen Offiziere an Bord des Zerstörers „Sposobnyj“ an Deck erschießen ließ. Dieses ungewöhnliche Schauspiel wollten sich viele sowjetische Seeleute nicht entgehen lassen und verließen deshalb ihre Gefechtsposten an den Beobachtungsstationen und Flak-Geschützen. 

Eine Staffel Ju-87 des deutschen Stuka-Geschwaders 77 befand sich allerdings zufällig auf einem Überführungsflug auf der Krim und griff nun, unmittelbar nach der Erschießung beider Offiziere, am frühen Morgen des 6. Oktober 1943 das noch nicht wieder voll kampfbereite sowjetische Geschwader an. Die Folgen waren verheerend. Der Leader „Charkow“ wurde schwer getroffen und mußte ab sofort wegen Maschinenausfalls geschleppt werden. Beim nächsten Luftangriff der Sturzkampfbomber erwischte es auf gleiche Weise den „Besposchadnyj“. Der letzte einsatzbereite Zerstörer „Sposobnyj“ mußte nun beide manövrierunfähigen Schiffe abwechselnd schleppen. Beim dritten Angriff sank der „Besposchadnyj“, und der Zerstörer „Sposobnyj“ wurde jetzt ebenfalls schwer beschädigt. Beim vierten Luftangriff sank der Leader „Charkow“ und beim fünften und letzten deutschen Luftangriff gegen 17 Uhr der Zerstörer „Sposobnyj“. Insgesamt verloren 733 sowjetische Seeleute, darunter 36 Offiziere das Leben. 

Jahrzehntelang geheimgehaltene kriegsgerichtliche Untersuchungen enthüllen, daß sich keineswegs alle Offiziere angesichts der Katastrophe heldenhaft verhielten. So rettete sich der Kommandant des „Sposobnyj“, Korvettenkapitän Gorschenin, mit seinen Offizieren in ein Rettungsboot und schoß auf seine im Wasser schwimmenden Matrosen, welche gleichfalls auf das Boot zu gelangen suchten. Immerhin, so ist angesichts dieser Tragödie sowjetischer Seekriegführung anzumerken, kann man heute in Rußland problemlos über die Kriegsverbrechen militärischer Führer im Zweiten Weltkrieg die Wahrheit schreiben.