© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/16 / 23. September 2016

Karriere ist kein Selbstzweck
Anne-Marie Slaughter verleiht der Diskussion um Vereinbarkeit von Familie und Beruf neue Impulse
Friederike Hoffmann-Klein

Im Jahr 2011 gibt Anne-Marie Slaughter ihren Traumjob im US-Außenministerium, für den sie zwei Jahre zuvor ihre Karriere als ordentliche Professorin in Princeton unterbrochen hat, ihrer Kinder wegen auf. Sie war zu der Erkenntnis gelangt, daß es nicht länger möglich sei, Regierungsarbeit auf hohem Niveau mit den Bedürfnissen zweier Kinder im Teenageralter zu vereinbaren, eine Schlußfolgerung, mit der sie an tiefverwurzelte feministische Glaubenssätze rührte. 

Hochgeachtet und anerkannt als eine der führenden Stimmen in der Debatte um die Vereinbarkeit von Kind und Karriere seit ihrem Artikel „Why Women Still Can’t Have It All“ in der Zeitschrift The Atlantic, gelingt es Slaughter mit ihrem 2015 erschienenen Buch „Unfinished business“, das jetzt auch in deutscher Übersetzung vorliegt („Was noch zu tun ist“), eine seit langem festgefahrene Debatte voranzubringen. Können Frauen wirklich „alles haben“, Kinder und Karriere? 

Anne-Marie Slaughter ist eine Karrierefrau. Sie hat ihr Leben auf dem feministischen Grundsatz aufgebaut, daß Frauen „alles haben“ können. Als sie einen hochdotierten Job im Außenministerium Hillary Clintons angeboten bekommt, für den sie nach Washington ziehen muß, sagt sie zu, obgleich es ihr schwerfällt, weil ihr damals neunjähriger Sohn darunter leidet. Sie liebt ihre Arbeit, dennoch fragt sie sich in dieser Zeit, warum sie eigentlich so weit weg von zu Hause sitzt, wenn ihre Söhne sie brauchen. Nicht allein aus Pflichtgefühl trifft sie die Entscheidung, ihre politische Karriere aufzugeben und nach Princeton auf ihre Professorenstelle zurückzukehren. Sie wollte nach Hause. 

Auch nach ihrer Rückkehr übt Slaughter einen Vollzeitjob aus, mit dem großen Unterschied flexibler Arbeitszeiten, die ihr die akademische Arbeit ermöglicht. „Ich war wieder zu Hause, und ich hätte glücklicher nicht sein können“, bekennt sie. Ihre verinnerlichte Überzeugung jedoch, ihre Karriere an erste Stelle zu setzen oder auch nur, sie nicht in Frage zu stellen, wurde durch den erlebten Konflikt erstmals erschüttert. Sie muß nun für sich selbst entscheiden, was ihr wirklich wichtig ist.

Sie ist schonungslos ehrlich mit sich selbst, und so kommt es, daß sie plötzlich bei einem ihrer Vorträge gegenüber jungen Studenten all ihre Bedenken ausspricht, die sie in dem besagten Artikel formulieren wird. Sie trifft dort auf ein Auditorium, das ihre Offenheit versteht. Von Frauen älterer Generation wird sie nach ihrem Atlantic-Artikel jedoch als Verräterin angesehen. Sie, die sich immer auf der anderen Seite sah, auf der Seite der Frauen, die es bis an die Spitze ihres Faches geschafft haben, findet sich plötzlich in der Gruppe derjenigen wieder, die die Erwartungen enttäuschen und ihr Talent „verschwendet“ haben. Sie aber weiß jetzt, daß beruflicher Erfolg nicht alles ist.

Mit ihrem Atlantic-Artikel hat Slaughter vielen Frauen aus der Seele gesprochen. Mit „Unfinished business“ setzt sie ihr offenes Bekenntnis fort. Anders als Frauen ihrer Generation wird heute kritischer nach den „Kosten“ gefragt. Wie sieht die Realität aus, wenn man Ernst macht mit einer Karriere? Kindermädchen rund um die Uhr, und man selbst sieht die Kinder nie? Das wollen junge Frauen heute nicht mehr. Wie kann man deshalb, so fragt Slaughter weiter, Bedingungen schaffen, die es Frauen ermöglichen, ihrem Beruf nachzugehen und sich gleichwohl um Kinder zu kümmern? 

Fragt man nach den Ursachen dafür, daß so viele Frauen es nicht bis an die Spitze schaffen, so erweist es sich, daß es diesen Frauen an Ehrgeiz mangelt. Der Schlüssel zum Verständnis dieses Phänomens liege, so Slaughter, in den zwei entgegengesetzten menschlichen Antrieben. Sorge für andere auf der einen Seite und unser Bedürfnis, ein Ziel zu verfolgen und dabei in Wettbewerb zu anderen zu treten, auf der anderen. 

Care und competition sind für Slaughter die zwei Säulen, auf denen menschliches Streben aufbaut. „Wenn wir aufhören, von einer ‘work-life-balance’ zu sprechen und statt dessen anfangen, von Diskriminierung der Betreuungsarbeit zu sprechen, sehen wir die Welt anders.“ Einer feministisch geprägten gesellschaftlichen Haltung lasse sich entgegentreten in der Gewißheit, daß eine Abwertung der Kinderbetreuung nicht die zwingende Kehrseite der Wertschätzung von Karriere sei. Früher habe sie das nicht so gesehen, sondern wie alle Karrierefrauen keinen Wert darin erblickt, daß Mütter zuhause bleiben. „Aber nicht länger“. 

Unsere Arbeitswelt muß familienfreundlicher werden

Unsere Arbeitswelt müsse deshalb familienfreundlicher werden. Die herrschende Arbeitsmentalität ist jedoch, so Slaughter, noch von „männlichen“ Mustern geprägt. Wir glauben, daß beruflicher Erfolg nur auf der Grundlage langer Bürostunden denkbar seit. Ausführlich befaßt sich deshalb der letzte Teil des Buches mit einer wünschenswerten Zukunft der Arbeitswelt und damit, wie wir sie so gestalten können, daß Frauen und Männer nicht nur gleichberechtigt am Erwerbsleben teilnehmen, sondern auch ihrer Aufgabe nachkommen können, für ihre Familienangehörigen zu sorgen. Sie geht mit gutem Beispiel voran und gestattet ihren Mitarbeitern, die Familie an erste Stelle zu setzen. Denn es sei nicht übertrieben, so Slaughter, „die Sorge und Erziehung unserer Kinder (…) als eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten anzusehen, die den gleichen Rang einnimmt wie die Bekämpfung des Islamischen Staates, wie der Russische Expansionismus oder der Aufstieg Chinas“.

Zeit für care und Wertschätzung dieser Arbeit, aber nicht auf Kosten der Karriere für Frauen, so ließe sich Slaughters Ansatz zusammenfassen. Sie richtet den Blick auf die praktischen Voraussetzungen, deren es bedarf, damit überhaupt Berufstätigkeit von Müttern möglich ist. Und sie ordnet die Schwerpunkte neu. Wenn man einmal, am Ende des eigenen Lebens, zurückblickt, wird die Frage, wieviel Zeit man mit den Kindern verbracht hat, wichtiger sein als eine erfolgreiche Karriere. Slaughter gelingt es, die Gleichwertigkeit der Erziehungsarbeit anzuerkennen und wertschätzend zu würdigen. Die vielen anschaulichen Beispiele aus ihrem eigenen Leben, mit denen Slaughter ihre Argumentation unterstützt, und der sehr angenehme Schreibstil machen das Buch zu einem Lesevergnügen. 

Anne-Marie Slaughter: Was noch zu tun ist. Damit Frauen und Männer gleichberechtigt leben, arbeiten und Kinder erziehen können. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016, gebunden, 352 Seiten, 19,99 Euro