© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/16 / 23. September 2016

Der Flaneur
Klimawandel, en passant
Paul Leonhard

Ich schwitze. Die Sachen kleben am Körper. 31 Grad Celsius zeigt das Autothermometer an. Der Himmel ist strahlend blau. Kein Wölkchen in Sichtweite. Dabei habe ich gerade Schlagermelodien und Bratwurstduft passiert. Im Zentrum der Stadt findet der Herbstmarkt statt. Und bei den Discountern gibt es Lebkuchen und Christstollen. Im Radio teilen sie mit, daß die städtischen Freibäder wegen des Wetters länger geöffnet bleiben. 

Von den Kastanien und Eichen fallen Früchte auf das Autodach. Große bunte Blätter trudeln über die Frontscheibe. Notabwürfe der Natur? Alles ist irgendwie durcheinandergeraten.

Auf der Straße spazieren folgsam Frauen mit Kopftüchern neben ihren Männern, den Kinderwagen schiebend, an der Hand ein Kind, das nächste ganz offensichtlich im Bauch. Sie sind wohl die demographische Trendwende, die die Politiker herbeisehnen. Die Bauarbeiter bei ihren Schachtarbeiten haben immer seltener etwas zum Hinterherschauen und Pfeifen. Klimawechsel in Deutschland, auch in den neuen Ländern.

Große Transparente an der TU teilen mit, daß das hier eine weltoffene Stadt zu sein habe.

Plakate werben für sichere Jobs bei Bundeswehr und Polizei, Migranten bevorzugt. Auf großen Transparenten an den Hörsälen der Technischen Universität, vor den Gebäuden der Staatlichen Kunstsammlungen und der Musikhochschule wird mitgeteilt, daß das hier eine weltoffene Stadt zu sein habe. Schwarz dagegen der von Unbekannten eilig auf die Litfaßsäule gesprühte Satz: „Es ist Zeit für eine Revolution.“ Und ein Stück weiter, am grauen Stromkasten, hat jemand das „Fuck“ vor „Pegida“ schwarz überpinselt und ein Herzchen darüber gemalt. Der deutsche Weltanschauungskampf tobt auch auf der Straße, seine Waffen sind Aufkleber und Spraydosen.

Ich parke den Wagen am Stadtpark, lege mich auf den grünen Rasen in die Sonne und freue mich über den meinen dampfenden Körper liebkosenden leichten Wind. Vielleicht kommt er bald, der deutsche Herbst.