© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/16 / 30. September 2016

„Kämpfen gegen das Regime der Angst“
Der Student Martin Sellner gilt als die prägende Figur der Identitären Bewegung im deutschsprachigen Raum
Moritz Schwarz

Herr Sellner, was meinen Sie mit „identitär“?

Martin Sellner: Eine neue Form konservativen Denkens: Die Identität unserer Völker zu erhalten, den Ideologien der Moderne, wie Rassismus und Antisemitismus, aber eine Absage zu erteilen – und auch den Nationalismus kritisch zu sehen. Gleichzeitig aber keine Zugeständnisse an den Zeitgeist zu machen, sondern schärfste Kritiker von Multikulti und Masseneinwanderung zu sein.

Laut Medien ist Ihre Identitäre Bewegung der „popkulturelle Arm der Rechten“.

Sellner: Weil die IB diese neue Form des Denkens um eine neue Form des Auftretens ergänzt. Wir haben die Gesetze des Marketings, der Sozialen Medien, und des Gesellschaftsspektakels verstanden. Wir gießen diese Erkenntnisse in überraschende, aber verständliche Aktionen. Wir sprechen die Sprache der Jugend und erzeugen die Bilder, die die Mediengesellschaft versteht. 

Zum Beispiel?

Sellner: Unsere erfolgreichste Aktion war die Besetzung des Brandenburger Tors. Sehr gut gefallen hat mir aber auch, als Stasi-Offiziere verkleidet bei Anetta Kahane, Leiterin der Amadeu-Antonio--Stiftung, zu klingeln, um ihr satirisch eine Belobigung des Ministeriums für Staatssicherheit zu überreichen. Wir sind kreativ, dynamisch und überraschend. 

Zuletzt haben Sie etwa den linken Journalisten Jakob Augstein überrascht. 

Sellner: Leute wie er versuchen, uns aus dem gesellschaftlichen Diskurs auszuschließen. Und nicht nur uns, sondern einen Teil des Volkes. Unsere Aufgabe ist es, diese Blockade zu durchbrechen und Diskursraum zurückzuerobern.

Laut „Tagesspiegel“ ist die IB eine „neurechte Spaßguerilla“. Klingt eher unernst.

Sellner: Wir adaptieren Aktionen der Studentenbewegung oder von Greenpeace: Begrenzte Regelübertretung, ziviler Ungehorsam, Überraschungsmoment und ja, auch Spaßaktionen. Letztere haben ein enormes Potential, denn nichts hat die linke Multikulti-Schickeria weniger als Humor. Entscheidend ist, daß wir in ihre Wohlfühlzonen eindringen – in die Räume derer, die den Diskurs okkupieren. Damit rechnen sie nicht. Sie sind überrascht, sprachlos, empört. Es versetzt sie in Unruhe: Sie müssen damit rechnen, daß nun immer und überall Identitäre auftreten. Vor allem aber machen wir sie mit unseren Aktionen zu Partnern unserer Kommunikation. Denn aufgeschreckt und aus dem Häuschen beginnen sie lautstark, vor uns zu warnen – also über uns zu berichten.

In der Darstellung der Medien wirken Ihre Aktionen allerdings oft aggressiv. Wie ist Ihr Verhältnis zur Gewalt?

Sellner: Wer sich unsere Aktionen auf Youtube anschaut, erkennt schnell, wie haltlos diese Darstellungen sind. Zum Beispiel haben wir in Wien während der Aufführung des Elfriede-Jelinek-Stücks „Die Schutzbefohlenen“ protestiert, in dem die Theatermacher Menschen auf die Bühne stellten, die jüngst als Flüchtlinge gekommen sind. Etliche Berichte erwecken den Eindruck, wir hätten uns gegen diese „Flüchtlinge“ gewandt, die sich vor uns hätten fürchten müssen. Tatsächlich aber begann die Aktion damit, per Megaphon ausdrücklich klarzustellen, daß sie sich nicht gegen diese richtet! Dann entrollten wir ein Transparent, aber nicht in Richtung der von den Theatermachern instrumentalisierten „Flüchtlinge“, sondern des Publikums. Darauf stand „Heuchler!“, was sich ebenfalls klar nicht gegen die Einwanderer, sondern gegen das Publikum richtete. Es ging uns darum, dieser Multikulti-Clique in der Tradition der Publikumsbeschimpfung ins Gesicht zu sagen, was wir von ihnen halten. Also: Wir verzichten bewußt auf Gewalt und rüdes Benehmen. Zum einen aus Überzeugung, zum anderen, um zu zeigen, daß der Stein des Anstoßes, wenn danach empört über uns berichtet wird, nur unsere dissidente Meinung ist. Unsere Maxime: Gewaltfreier und kreativer Widerstand. Offenes Auftreten und Gesicht zeigen. Vernünftige Argumentation und Absage an politische Hetze.

Laut Hanning Voigts, Journalist der „Frankfurter Rundschau“, haben die IB-Aktivisten auf dem Brandenburger Tor allerdings „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“ gefordert. 

Sellner: An dieser Behauptung stimmt kein Wort. Und Herr Voigts hat das kurz darauf auch öffentlich eingeräumt. Gerade, daß es sich bei unseren Losungen nicht um rechtsextreme Parolen handelt, macht vielen Journalisten Angst. Alles was ihnen dann einfällt, ist der Abbruch des Diskurses. Und der beste „Conversation-Ender“ ist eben der Nazi-Vorwurf. Dabei ist ihnen keine Logik zu absurd: Die IB-Aktivisten sehen nicht aus wie Nazis. Sie handeln nicht wie Nazis. Sie sagen nicht, was Nazis sagen. Fazit? Sie sind Nazis! Oder: Die IB sei besonders gefährlich, weil sie so ungefährlich ist. Denn deshalb sei es ja so schwierig, ihre Gefährlichkeit zu zeigen! Alles klar? 

Eben, Ihre Kommunikationsstrategie geht nicht auf: Die Medien beschreiben Sie als „völkisch“, „rassistisch“, „extremistisch“.

Sellner: Sehr oft haben Medienproduzenten eine politische Agenda. Sie verstehen nicht, weil sie nicht verstehen wollen. Was wir aber dank unserer Gegenstrategien in den Sozialen Medien zum Teil unterlaufen können. So ist es für mich ein toller Erfolg, daß einer unserer Brandenburger-Tor-Aktivisten früher bei linken Demos war. Er sei aber „wie vom Donner gerührt“ gewesen, als er sah, wie wenig wir dem Bild entsprechen, das die Medien von uns zeichnen.

Die meisten Bürger erreicht Ihre mediale Gegenstrategie allerdings wohl kaum. 

Sellner: Wir sind eben eine kleine Gruppe. Wir können Medien und Politik nicht zwingen, die Wahrheit zu sagen. Was wir aber können, ist sie zu zwingen, immer absurder zu lügen! Allerdings richten wir uns auch nicht an die Masse. 

Sondern?

Sellner: Die Masse glaubt, was in der Zeitung steht. Übrigens würde sie nach einem Umschwung auch das Gegenteil glauben, wenn das dann in der Zeitung steht. Die IB ist eine metapolitische Avantgarde: Wir richten uns an die zehn Prozent, die dissident denken, die kritisch nachfragen, nachbohren und entschlossen „Stopp!“ sagen, wenn sie merken, daß sie belogen werden. 

Zehn Prozent sind aber nur zehn Prozent.

Sellner: Falsch. Die IB unterhält einen Kreis zur Auswertung von Studien. Laut diesen genügen schon 3,5 Prozent einer Bevölkerung mit einer kritischen Haltung gegenüber einem gesellschaftlichen Dogma, damit dieses nicht mehr zu halten ist. Und um das klarzustellen: Wir kämpfen nicht gegen den Staat, die Polizei oder „das System“. Wir kämpfen gegen das Meinungsdogma! Gegen jenes Regime der Angst, das verhindert, über die Dinge rational und ehrlich zu sprechen. Ich glaube, daß eine aktive und entschlossene Minderheit, die vorführt, daß dieses Regime gebrochen werden kann, genügt, um es zu Fall zu bringen.

Kämpfen Sie gegen die Einwanderer? 

Sellner: Nein! Wir demonstrieren auch nicht vor Asylheimen. Die Einwanderer sind für uns überwiegend ebenso Opfer einer wahnhaften Politik wie die Einheimischen. 

Sie beanspruchen, nicht rassistisch zu sein.

Sellner: Ja, Rassismus ist eine Verzerrung der Idee, das Eigene wertzuschätzen. Denn er qualifiziert das Fremde als minderwertig. Wir aber sagen, daß alle Völker es wert sind, bewahrt zu werden. Das schließt das eigene ein. 

Sie mögen da fein unterscheiden, aber sind Sie sicher, daß auch Ihre Mitstreiter das tun? Möglicherweise werfen viele von diesen das insgeheim ebenso durcheinander, wie das Ihre politischen Gegner tun.

Sellner: Das glaube ich nicht. Wir schulen unsere Leute, bringen ihnen bei, was es bedeutet, identitär zu denken. 

Sie schulen Ihre Leute aktiv darin, Rassismus oder Nationalsozialismus abzulehnen?

Sellner: Ja, absolut. Und wir dulden auch keine rassistischen Witzchen oder so. Und daß es von entsprechender altrechter Seite auch Kritik an der IB gibt, zeigt, daß unser Denken anders ist. 

Kann also auch etwa ein schwarzer, moslemischer Deutscher IB-Mitglied werden?

Sellner: So einen Fall wie diesen hatten wir noch nie, und er wirkt schon etwas konstruiert. Unsere Zielgruppe sind grundsätzlich einheimische Jugendliche, aber wir hatten etwa in Wien auch Jugendliche mit polnischem oder serbischem Migrationshintergrund auf Demos dabei, die unsere Ziele teilen. Man muß immer im Einzelfall entscheiden.

Pardon, aber wenn Rasse wirklich keine Rolle für Sie spielt, müßte Ihre Antwort dann nicht uneingeschränkt „ja“ lauten?

Sellner: Nein, und zwar weil Sie nun genau das tun, was wir ablehnen. 

Nämlich? 

Sellner: Sie unterziehen den Begriff Rassismus einer Engführung. Zur Verdeutlichung: Wenn ein Indianerstamm nicht bereit ist, einen Fremden aufzunehmen, ist der Grund dafür wohl kaum Rassismus, sondern Tradition. Rassismus wäre, wenn er ihn nicht nur für fremd, sondern minderwertig halten würde. 

Fallen Sie damit dennoch nicht sogar hinter die NPD zurück, die etwa einen Nichtdeutschstämmigen sogar im Vorstand ihrer Jugendorganisation durchgesetzt hat?

Sellner: Nein, wir erkennen einfach an, daß Identität und Herkunft keine Nebensächlichkeiten und Kleinigkeiten sind. Es gibt keine Häkchenliste für Identität. Man muß so etwas immer im konkreten Einzelfall betrachten. Ein Volk ist auch niemals „rasserein“, und auch Deutschland hatte stets eine gewisse Assimilations- und Integrationskraft. Die hat aber auch Grenzen.

Droht nicht, daß Rechtsextreme, auch gegen Ihren Willen, die IB unterwandern?

Sellner: Solche Versuche gab es, wurden aber von uns abgeblockt. 

Sie sind ein loser Zusammenschluß – das können Sie doch gar nicht kontrollieren.

Sellner: Wir können nicht kontrollieren, wer etwa zu einer Demo kommt. Sehr wohl aber, wer eine Regionalgruppe gründet oder dort Mitglied wird. 

Ist die IB ein „Parkplatz“ für Leute, die nicht in die AfD kommen, etwa wegen einer früheren NPD-Mitgliedschaft?

Sellner: Wie bitte? Nein. Zum einen ist eine aktivistische Bewegung etwas ganz anderes als eine Partei, so daß AfD und IB eher unterschiedliche Gemüter anziehen. Zum anderen würde jemand, der in die AfD will, dank deren Abgrenzungsbeschluß gegenüber uns, seine Chancen dafür eher verschlechtern.  

Fungiert die IB möglicherweise als eine Art „Waschmaschine“ für Leute mit rechtsextremen Biographien?

Sellner: Also ich gratuliere Ihnen! So etwas ist ja noch nicht einmal der Antifa eingefallen. Nein, abwegig. Das würde voraussetzen, daß die IB das gesellschaftliche Image aufbessert. Was wir haben, sind Leute, die mit ihrer rechtsextremen Vergangenheit ehrlich gebrochen haben.       

Sie waren selbst einmal Mitstreiter des österreichischen Neonazis Gottfried Küssel.

Sellner: Was ich selbst offen thematisiert habe. Das war eine Spur, auf die ich geriet, weil es damals keine andere Anlaufmöglichkeit gab.

Moment, die FPÖ-Jugend etwa!

Sellner: Ich wollte keine Parteiarbeit machen, sondern mich als Jugendlicher  aktivistisch engagieren. 

Warum hatten Sie nicht den ethischen Instinkt, sich von Neonazis fernzuhalten?

Sellner: Ich dachte zu Beginn: besser sich bei etwas zu engagieren, womit man teilweise nicht einverstanden ist, als gar nichts zu tun – immer in der Hoffnung, diese Gruppe auch verändern zu können. Ehe man sich versieht, steckt man tief in einer ideologischen Sicht der Wirklichkeit. Es war ein Irrweg, und ich will heute dazu beitragen, andere Jugendliche vor solchen Fehlern zu bewahren. Wir sind auch eine Art politische Streetworker.

Bitte?

Sellner: Wir fangen auch junge Leute auf, die sonst möglicherweise abrutschen – in negatives, vielleicht gar gewaltbereites Verhalten, weil sie, alleingelassen von Staat und Gesellschaft, in ihrer Orientierungslosigkeit extremen politischen Vorbildern verfallen. 

Sie beanspruchen also, eine Art „Kampf gegen Rechts“ zu machen?

Sellner: Überspitzt könnte man das so sagen. Wir bringen jungen Leuten bei, statt sich von Gewalt verführen zu lassen, Energie positiv zu nutzen, Kreativität zu entwickeln, sich politisch zu artikulieren. Sprich, sich zu emanzipieren und mündige Bürger zu werden. 

Auch wenn Sie nichts anderes tun als etwa Greenpeace: Haben Sie keine Skrupel, junge Leute zu Aktionen zu verleiten, die ihnen dann, dank des Internets, das nichts vergißt, ein Leben lang anhängen? 

Sellner: Dieser Verantwortung bin ich mir bewußt. Aber die meisten unserer Aktivisten sind auf der Suche nach Aktionen. Die IB zeigt ihnen dafür einen sinnvollen und friedlichen Weg. Zudem dürfen wir eben vor dieser Angst nicht kapitulieren! Denn jeder, der das tut, wird Teil dieser Angst und des Meinungsdrucks. Und jeder, der es schafft, sich davon freizumachen, bei unseren Aktionen mit offenem Gesicht auftritt, zeigt, daß dies möglich ist und erzeugt eine Bugwelle der Freiheit und der Ermutigung, die anderen Mut und Hoffnung gibt.

Wie finanziert sich Ihre Bewegung?

Sellner: Durch viele kleine Spenden, und jeder findet auf unserer Netzseite die Möglichkeit, uns zu unterstützen. Was sich lohnt, denn ich bin sicher, daß die IB Denken und Stil der patriotischen Jugend künftig noch stärker prägen und mehr Jugendliche für den Patriotismus gewinnen wird. Ja, daß in einigen Jahren identitär zu sein eine anerkannte Form der Jugendkultur ist. 

Oder auch nicht. Es gab schon viele neue konservative Ansätze, die von einer alarmistischen Presse hochgejazzt wurden, tatsächlich aber rasch wieder verschwanden.

Sellner: Dazu ist die politische Lage inzwischen zu polarisiert. Und die IB zu modern – anders als alle Projekte vor ihr, die nur darauf zielten, altes, apologetisches Denken zu reanimieren. Also: Ganz sicher nicht!






Martin Sellner, ist der Sprecher der Identitären Bewegung in Österreich und auch hierzulande ihre Galionsfigur. Der gebürtige Wiener, Jahrgang 1989, studiert Philosophie und Jura in seiner Vaterstadt.

Foto: Besetzung des Brandenburger Tors durch Aktivisten der Identitären Bewegung am 27. August in Berlin: „Wir erzeugen die Bilder, die die Mediengesellschaft versteht“ 

 

 

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