© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/16 / 30. September 2016

„Wir würden es lieben, vereint zu sein“
Afrikanische Union: Trotz ökonomischer Schwäche, politischer Uneinigkeit und von Kriegen zerrüttet, will der Kontinent aus seinem Schatten treten
Marc Zoellner

Wenn Afrika in den Nachrichten erscheint, verheißen die Schlagzeilen oft keine guten Neuigkeiten. Es ist ein einseitiges Bild, welches von westlichen Medien über den zweitgrößten Kontinent – der immerhin siebenmal größer ist als die Europäische Union – geprägt wird: von Hungersnöten und Katastrophen, von Bürgerkriegen in Somalia, im Südsudan und Mali, von Tausenden im Mittelmeer ertrunkenen afrikanischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen. Afrika, so scheint es, ist ein Kontinent allein trauriger Rekorde eingerahmt von spektakulären Naturphänomenen wie der größten Wüste und des längsten Fluß dieser Erde.

Mit der Agenda 2063 in eine bessere Zukunft   

Doch ginge es nach dem Willen der Afrikanischen Union (AU), würde Afrika demnächst ein ganz anderer Rekordhalter werden und nebenbei den größten Staat der Welt beherbergen: nämlich Afrika selbst. Was auf den ersten Blick utopisch erscheinen mag, ist schon seit einigen Jahren in Arbeit.

Dreiundfünfzig Jahre ist es her, seit sich der panafrikanische Staatenbund, damals noch unter der Bezeichung Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) firmierend, erstmals traf. Der Konferenz, zu der Äthiopiens Kaiser Haile Selassie in Addis Abeba eingeladen hatte, ging drei Jahre zuvor das Afrikanische Jahr voraus. Gleich 18 europäischen Kolonien gelang 1960 der Sprung in die Unabhängigkeit. Sie sollten später zu militärischen Rückzugsbasen ebenso wie zu Finanzierern der Dekolonialisten werden. 

Mit der Gründung der OAU durch mittlerweile 33 Teilnehmer wurde 1963 nicht nur ein schlagkräftiges Guerillabündnis gegen die einstigen Herrscher aus Europa geschmiedet. Es war auch ein ideologischer Pakt. Das erste einhellige Bekunden der afrikanischen Völker nach Einheit und einer gemeinsamen Zukunft ihrer Staaten. „Möge diese Versammlung der Einheit tausend Jahre überdauern“, verkündete Selassie vor den rund 2.000 Delegierten, bevor er diese, ganz einem Kaiser gebührend, zum wohl größten Staatsbankett in der modernen Geschichte Afrikas einlud.

Jahrzehnte später hatte der Schwarze Kontinent sich fundamental gewandelt: Dies nicht immer nur zum Guten. Was blieb, war Haile Selassies Vision von einer Afrikanische Union – dies sowie ein danach benannter Staatenbund; im Mai 2001 ebenfalls in Addis Abeba gegründet und schon 2002 in die Nachfolge der aufgelösten OAU tretend. 

Das Jahr 2013 stellte einen Meilenstein in der afrikanischen Chronologie dar. Denn in diesem wurde, beinahe unbeachtet von den Medien der westlichen Welt, das wohl bedeutendste Projekt enthüllt, dessen sich die Afrikanische Union heute rühmen kann: die Agenda 2063, ein detailliert ausgearbeiteter Siebenpunkteplan, um Afrika über die kommenden fünfzig Jahre vom ökonomisch schwächelnden, politisch uneinigen und von Kriegen und Bürgerkriegen zerrütteten Kontinent in eine gemeinsame Wirtschaftszone und ein vereintes Staatswesen umzuformen.

„Seit 1963 wurde das Streben nach einer Afrikanischen Einheit vom Geist des Panafrikanismus inspiriert, mit besonderem Blick auf die Befreiung sowie auf politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit“, werben die Autoren der Agenda 2063 in ihrem Strategiepapier. „Afrika soll zu einem ganzheitlichen, vereinten, souveränen, unabhängigen, zuversichtlichen und selbstbewußten Kontinent werden.“ Und das, so der Fahrplan, bestenfalls binnen weniger Jahrzehnte. Denn auf die Afrikaner warten bereits Mammutaufgaben als Herausforderungen der Zukunft.

Beliebige Grenzziehungen behindern Fortschritte

Gleich ein halbes Dutzend Flaggschiffe wagt sich die AU aktuell gleichzeitig durch ungünstige Gewässer zu manövrieren. Eines davon wurde auf dem Treffen der AU in Kigali im Juli eingeführt: Der e-Paß, angelehnt an das europäische Vorbildmodell des Schengener Abkommens. Noch in diesem Herbst sollen sämtliche Teilnehmer der AU-Gipfels mit den digital auswertbaren Dokumenten ausgestattet werden. Der neue Ausweis ermöglicht ein visumfreies Reisen in jedem der 54 Mitgliedsstaaten der Afrikanischen Union, ausgenommen das suspendierte Marokko. 

Sollte sich der e-Paß bewähren, und dessen zeigt sich die Afrikanische Union zuversichtlich, sollen bis 2018 oder spätestens 2020 sämtliche Afrikaner einen solchen Reisepass zugestellt bekommen. Afrika wäre damit noch nicht grenzenlos. Doch der Zwang, ein kostspieliges Visum zu beantragen, entfiele dann für jeden afrikanischen Bürger. Zumindest, was Reisen in Afrika betrifft.

Tatsächlich existieren solche Modelle bereits. So hatten die ostafrikanischen Staaten Tansania, Uganda, Ruanda und Burundi unlängst ihre Visumpflicht für Angehörige der jeweiligen Nachbarländer aufgehoben. Auch auf den Seychellen wird seit einigen Jahren kein Einreiseantrag mehr benötigt.

 Wirtschaftlich wie interkulturell zahlte sich dies für Ostafrika bereits in barer Münze aus. Mit durchschnittlich siebeneinhalb Prozent pro Jahr gehört die ostafrikanische Region seitdem zu den wachstumsstärksten Märkten der Welt.

Zweifelsohne steht fest: Afrikas oftmals willkürlich gezeichnete Grenzen sind hinderlich für den Aufschwung des gesamten Erdteils. Viele der bevorstehenden Probleme lassen sich nur noch durch multinationale Kooperation lösen. Sei es im Bereich des Handels oder auch der innerafrikanischen Migrationsbewegungen. Sei es bei der Energieerzeugung und der Verteilung der unzähligen Bodenschätze, die in der Erde Afrikas schlummern.

Ein gutes Beispiel hierfür ist der Grand-Inga-Staudamm, rund 225 Kilometer südwestlich von Kinshasa gelegen und eines der anderen Flaggschiffe der Afrikanischen Union. Bereits Inga III, die erste der sechs seit 2011 geplanten Staustufen, soll dereinst ein Becken von rund 22.000 Hektar Fläche begrenzen. Einmal vollendet, würde Grand Inga rund 40 Gigawatt an Energie erzeugen – mehr als das Achtfache des größten, im polnischen Belchatów gelegenen Kraftwerks Europas und selbst mehr als das Doppelte im Vergleich zum chinesischen Dreischluchtenstaudamm.

Doch die horrend veranschlagten Baukosten von gut 80 Milliarden US-Dollar, umgerechnet rund 72 Milliarden Euro, könnte die Demokratische Republik Kongo, hochverschuldet und mit einem Jahreshaushalt von gerade einmal fünf Milliarden Euro ausgestattet, keinesfalls auf eigene Rechnung stemmen. Trotz alledem wagte sich die Regierung im Oktober 2015 an die Grundsteinlegung für Inga III. Grund war nicht nur ein evidentes Interesse des chinesischen Konsortiums Sinohydro sowie der China Three Gorges Corporation, welche auch den Dreischluchtenstaudamm betreibt, an einer Beteiligung am Projekt. Auch die Zusage der Afrikanischen Entwicklungsbank sowie insbesondere die Einwilligung der Republik Südafrika, sich verpflichtend zum Hauptabnehmer des künftig erzeugten Stroms zu erklären, brachten das nunmehr panafrikanische Megaprojekt schlußendlich in Fahrt.

Der panafrikanische Gedanke sowie der Glaube an eine „afrikanische Renaissance“ dienen gerade der jungen Generation des Kontinents als Triebfeder für die Realisierung dieser Einheit. „Natürlich bin ich in erster Linie Afrikaner und auch stolz darauf“, erzählt beispielsweise der 26jährige Eslam Hegazi im Gespräch mit dieser Zeitung. Von einer Union ist der Soldat aus Alexandria wie viele Afrikaner hellauf begeistert. „Wir sind durchaus sehr unterschiedlich, aber so seid ihr Europäer doch auch“, betont Eslam. „Ebenso wie ihr, haben wir auch nicht dieselbe Sprache und Religion. Aber wir würden es lieben, vereint zu sein. Ich denke schon, wir sollten eine Gemeinschaft auf wirtschaftlicher Basis gründen.“

„Ein visumfreier Kontinent ist nur der Beginn einer viel größeren Entwicklung“, bestätigt Philani Ndebele, der 28jährige Kampagnenleiter der Johannesburger Denkfabrik Action Support Centre (ASC). „Unsere Schritte hin zu einer gemeinsamen afrikanischen Regierung werden uns von Nutzen sein. Und unsere gemeinsame afrikanische Währung wird Afrikas Standpunkt auf dem Weltmarkt gewaltig stärken.“

Afro, so lautet in Anlehnung an den Euro der gegenwärtig kursierende Name dieser Gemeinschaftswährung. Seine kontinentalweite Einführung bis spätestens 2028 wurde bereits im Juni  1991 während der Abuja-Konferenz in Nigeria beschlossen, auf welcher ebenfalls – wiederum in Anlehnung an die EWG – die Afrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (AEC) konstituiert worden ist. Im kleineren Maßstab wurden afrikanische Gemeinschaftswährungen bereits seit längerem erfolgreich erprobt. Seit 1994 existieren in West- und Zentralafrika zwei ausgedehnte Wirtschafts- und Währungsunionen mit insgesamt 14 partizipierenden Staaten. Von Senegal bis Niger und vom Tschad bis zur Republik Kongo finden die CFA-Francs Geltung im Handel und im Warenverkehr auf einer Fläche von gut 6,5 Millionen Quadratkilometern – etwa dem anderthalbfachen der Europäischen Union. Vier weitere südafrikanische Staaten hatten sich seit 1986 zur Common Monetary Area (CMA) zusammengeschlossen und akzeptieren seitdem den Südafrikanischen Rand als Gemeinschaftswährung.

Der öffentlich zelebrierten Euphorie der AU zum Trotz sagten bislang jedoch gerade einmal drei afrikanische Staaten zu, ihre Landeswährung im kommenden Jahrzehnt auf den Afro umzustellen. Die Inselstaaten von Kap Verde und den Seychellen setzen hingegen gar auf einen Beitritt zum Euro-Raum. Am Rand des Kigali-Treffens konzentrierten Unterhändler sich daher besonders auf weitaus reellere und verständlicherweise profitablere Projekte: Beispielsweise jenes der „Africa Integrated High Speed Train Initiative“, eines geplanten Netzwerkes an Hochgeschwindigkeitszügen, welche in vier Abschnitten bis zur Jahrhundertmitte sämtliche Hauptstädte sowie bedeutenden Wirtschaftsregionen Afrikas miteinander verbinden soll – unter anderem quer durch die Sahara.

Weitläufige Kooperationen mit China 

Durch chinesische Kredite kofinanziert, konnte eine der ersten dieser Teilstrecken bereits im Oktober 2015 im äthiopischen Addis Abeba in Betrieb genommen werden (JF 42/15). Die ostasiatische Volksrepublik, die seit den siebziger Jahren umfangreiche Kenntnisse in Bau und Betrieb transafrikanischer Eisenbahnlinien vorweisen kann, gilt auch bei letzterem Flaggschiff der AU als aussichtsreichster Bewerber.

Eine gemeinsame Währung, ein gemeinsames Streckennetz, offene Grenzen auf einem gemeinsam verwalteten Kontinent – die Pläne der Afrikanischen Union klingen so spannend wie risikoreich. „Doch auch wenn das visumfreie Reisen für Afrika großartig wäre, könnte es mit gewaltigen Kosten verbunden sein“, mahnt Wayne Lardner, Geschäftsführer von Pretorias South Africa Academy of Applied Competence (SAAAC). „Viele afrikanische Staaten würden davon profitieren, während andere die Last zu tragen hätten.“ Wie beispielsweise Südafrika, erklärt der 55jährige im Gespräch, das Land am Kap beherberge heute schon ein Drittel der Bürger Malawis als Migranten. „Menschenhandel mit dem Versprechen eines besseren Leben ist schon heute ein großes Problem“, so Lardner. Das Ringen zwischen Einheimischen und Einwanderern um knapp bemessene Arbeitsplätze erzeuge heute schon einen spürbaren „Haß auf Ausländer, besonders zwischen schwarzen Afrikanern selbst, welcher eine große Gefahr für die geplante Reisefreiheit bedeutet“.