© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/16 / 30. September 2016

Eltern werden enteignet
Altbekannte Hoffnungsängste: Um Kinderarmut zu beseitigen, fehlt der politische Wille
Jürgen Liminski

Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem reaktionären Bericht des Club of Rome und der Bertelsmann-Studie über die Kinderarmut. Beide berichten von einem erschreckenden Realitätsverlust des regierenden Establishments, beide sind Zeugnisse der Hoffnungsangst, die seit langem in Europa grassiert. Schon Thomas Mann sprach von dem „instinktunsicheren Kontinent“ und Kardinal Ratzinger konstatierte in Europa eine „seltsame Müdigkeit“, die zu einem Verlust von Hoffnung und Zuversicht und damit auch zu weniger Familie und Kindern führte.

Die Mitglieder des vor allem im grünen und linken Milieu einflußreichen Club of Rome sind offenbar schon zu müde zum Nachdenken und bleiben in ihrer steinzeitideologischen Umwelthöhle sitzen. Sonst hätten sie die Zusammenhänge zwischen Demographie, Wirtschaft und Wohlstand nicht so plakativ verdrängt. Und die „Bertelsmänner“ sind wohl auch zu müde, um alte Ladenhüter wenigstens neu zu verpacken.

Die Kinderarmut ist seit mehr als zwanzig Jahren bekannt, der Trend uralt, die Zahlen sind vielfach veröffentlicht und immer wieder aktualisiert worden in Berichten von Gewerkschaften, Banken, Kirchen, Verbänden, Ministerien und Statistikämtern und in Büchern wie „Sozialstaatsdämmerung“ von Jürgen Borchert (2013). Sie alle haben festgehalten, daß Alleinstehende mit Kindern und kinderreiche Familien in den Armutsrankings seit Jahrzehnten ganz oben stehen. Die Politik hat sich stets wohlfeil empört und daraus das Mantra geschmiedet: Mehr Krippenplätze, damit auch die Mutter arbeiten könne – als ob sie zu Hause nicht arbeiten würde. Nie ging es um das Kindeswohl, das in der emotionalen Beziehung der Kinder zu ihren Eltern liegt, immer ging es darum, der Familie den Effizienzkult der Wirtschaft überzustülpen.

Liebe läßt sich aber nur schlecht zeitlich organisieren und eingrenzen, sie braucht eigentlich permanent Zeit für Zuwendung und Zärtlichkeit. Das wußte auch schon Pestalozzi, der seine pädagogischen Erkenntnisse eben in drei Z zusammenfaßte: Zeit, Zuwendung, Zärtlichkeit. Das wichtigste ist dabei die Zeit. Ohne sie keine Zuwendung. Zeit ist kein emotionaler Luxus. Es ist Investition in die Zukunft. Denn die Liebe erzeugt die Eigenschaften, die Wirtschaft und Gesellschaft brauchen, jene berühmten Voraussetzungen, von denen der Staat lebt und die er selber nicht schaffen kann und die nur in der Familie geschaffen werden können. Es ist bezeichnend, daß – folgt man der wissenschaftlichen Literatur – „die Erzeugung solidarischen Verhaltens“ als ein Grund für den verfassungsrechtlichen Schutz der Familie genannt wird. Es sei eine Leistung, schrieb der Nestor der Familienpolitik, Heinz Lampert, die in der Familie „in einer auf andere Weise nicht erreichbaren Effektivität und Qualität“ erbracht werde.

Daran denken die Autoren der jüngsten Berichte natürlich nicht. Sie messen nicht die emotionale Verarmung in diesem Land, ihnen geht es um Wohlstand in Form von Konsumoptionen. Aber selbst in dieser Hinsicht heißt es Fehlanzeige. Die erhöhte Zahl der Krippenplätze hat die materielle Kinderarmut nicht aufgehalten. Das liest man freilich im Bertelsmann-Bericht nicht und wird es auch in keinem Bertelsmann- Dokument je lesen, weil diese Stiftung sich als Zusatzaggregat der Politik begreift und stets entsprechende Studien veröffentlicht.

Eines darf man den Bertelsmännern allerdings bescheinigen: Anders als die Alt-68er des Club of Rome propagiert die Stiftung nicht die Kinderarmut als umweltpolitisches Ideal, sondern unternimmt den Versuch, die Gründe für dieses alte Phänomen zu suchen. Ihre Kritik an der mangelhaften Forschung über Kinderarmut und ihre Folgen ist berechtigt. Dafür aber braucht es Langzeitstudien, und die sind rar, teuer und verlangen viel Ausdauer. Eigentlich kennt die internationale Fachwelt nur ein halbes Dutzend, immerhin muß man die gleichen Personen in der Regel über mehr als ein Jahrzehnt hinweg beobachten, befragen und wechselnde Umstände in Betracht ziehen. Anders sind empirisch gestützte, belastbare Thesen und Erkenntnisse über emotionale, psychologische und kognitive Entwicklungen der Persönlichkeit nicht zu gewinnen.

Solche Studien widersprechen den Wünschen und Ideologien des Establishments. Vor allem die Ergebnisse der Hirn- und Bindungsforschung legen nahe, daß das Kind unter drei Jahren für die emotionale und kognitive Entwicklung die drei Z braucht. Sie beeinflussen den späteren Leistungswillen, die soziale Kompetenz oder die Toleranzfähigkeit stärker, als die Verfechter der staatlichen Betreuung ahnen. Solche Erkenntnisse werden verdrängt. Viel leichter ist es, sich materiellen Aspekten der Kinderarmut zu widmen, selbst wenn sie altbekannt sind.

Aber auch da geht es an der Wirklichkeit vorbei. Verbände und Experten weisen mit exakten Berechnungen seit Jahren darauf hin, daß eine Familie mit zwei Kindern bei einem Durchschnittsverdienst trotz Kindergeld unter dem steuerrechtlichen Existenzminimum liegt und bei drei Kindern an die Hartz-IV-Schwelle rückt. Hartz IV indes, so der Verband Familienarbeit, „ist kein geeignetes Mittel zur Bekämpfung der Kinderarmut. Nur eine finanzielle Anerkennung der im Dienste der Allgemeinheit erfolgten Erziehungsleistung kann Gleichberechtigung für Eltern herstellen.“ Denn „im Rahmen unseres Sozialsystems wird der Gewinn aus der Kindererziehung vergesellschaftet, während die Kosten ganz überwiegend weiter den Eltern überlassen blieben“. Diese Enteignung der Eltern sei der „Hauptgrund für die zunehmende Kinder- und Familienarmut“.

Das ist jungen Paaren nicht immer bewußt. Aber von den Paaren, die ein Kind wollten und es dennoch nicht bekamen, entscheiden sich 90 Prozent aus finanziellen Gründen dagegen. Verständlich, niemand wird gern freiwillig arm. Das ewige Gerede von der Kinderarmut ist insofern ein Angstverstärker und „Kinderwunschkiller“. Das wiederum ist weder den Steinzeitideologen des Club of Rome noch der Bertelsmann-Stiftung ein Anliegen. Sie haben kein Herz für Familie. Kinderarmut ist kein Thema der Paare. Es ist ein Thema der Politik. Das zeigt nicht nur die Erhöhung des Kindergeldes um zwei Euro. Geld ist genug da, wie die Banken- und die Flüchtlingskrise sehr deutlich und anschaulich belegen. Was fehlt, ist der politische Wille, Kinderarmut wirklich beseitigen zu wollen. Es gäbe da ein probates Mittel: die Familien-Urteile des Bundesverfassungsgerichts umsetzen. Die Wirkung dieser Gerechtigkeit schaffenden Umsetzung – das wäre mal einen Bericht wert.