© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/16 / 30. September 2016

Finger weg von dem Monument
Wo Priester längst vergessener Kulte längst vergessene Götter ehrten: Eine Reise nach England zur Steinkreis-Anlage Stonehenge
Martin Voelkel

Die Stimme des Mannes vom Sicherheitsdienst ist höflich, aber bestimmt: „Das ist noch nicht Ihr Bus, Sir.“ Wir müßten noch einen Augenblick warten. Währenddessen marschieren einige Damen in Abendgarderobe an uns vorbei, zügigen Schritts, soweit das die hohen Absätze erlauben. Ihre Stimmung ist aufgekratzt, sie lachen und sind ansonsten eifrig beschäftigt, Kleidung und Frisur vor dem englischen Nieselregen zu schützen, der in der Dämmerung eingesetzt hat. Ein Chor, hieß es, der Stonehenge als Hintergrund für ein Werbefoto ausgesucht habe. Einige Mitglieder seien auf der Anfahrt im Stau steckengeblieben, daher komme es zur Verzögerung im Ablauf.

Verzögerungen sind ansonsten nicht vorgesehen. Was sich heute im Umfeld von Stonehenge abspielt, ist sorgfältig geplant, Teil eines umfangreichen Konzepts der Neugestaltung, das man seit 2013 verwirklicht hat. Dazu gehörten der Abriß der Straße direkt vor dem Monument und der Bau des Besucherzentrums. 2013 wurden der bis dahin genutzte improvisierte Parkplatz und das alte Empfangsgebäude beseitigt, das durch einen Tunnel direkt mit der Anlage verbunden war. Das Gelände ist in der Zwischenzeit renaturiert worden.

Währenddessen wurde zwei Kilometer von Stonehenge entfernt ein neuer „Terminal“ errichtet, mit Ausstellung, Informationsbereich, weiteren Touristenangeboten sowie einer riesigen asphaltierten Fläche für die Fahrzeuge der Besucher. Schon um deren ununterbrochenen Strom – im vergangenen Jahr kamen mehr als 1,3 Millionen Menschen – zu kanalisieren, war es nötig, die gesamte Logistik für die Anlage neu zu entwerfen.

Zu den positiven Effekten der Veränderung gehört sicher, daß die meisten optischen Hinweise auf die Gegenwart verschwunden sind oder kaschiert wurden, so daß der monumentale Eindruck von Stonehenge kaum noch gestört wird. Tagsüber irritiert zwar die Masse an Menschen, die die großen Steine umrunden, anstarren – überwältigt, nachdenklich oder enttäuscht –, aber wenn man eine der begehrten Karten für den „inner access“ erhält, kann man in den späteren Abend-, in den Nacht- oder in den frühen Morgenstunden wenn nicht ungestört, dann doch in größerer Ruhe mit wenigen anderen nach Stonehenge kommen.

Das unvermeidbare Grüppchen von Neuheiden

Den eigentlichen Reiz macht aber der Zugang zum Steinkreis selbst aus, der seit den 1980er Jahren für Besucher gesperrt ist und bei dieser Gelegenheit geöffnet wird. Der Gedanke, dort zu stehen, wo vor Jahrtausenden die Erbauer der Anlage standen, wohin sie und ihre Nachfolger kamen, um ihre Rituale zu vollziehen, wo die Priester längst vergessener Kulte längst vergessene Götter ehrten oder die Gemeinde den Lauf der Sonne beobachtete, übt eine ganz besondere Faszination aus. Eine Faszination, mit der man keinesfalls allein ist. Vielmehr gibt es einen lange vor der Saison einsetzenden Wettlauf um die begehrten Eintrittskarten. Man sollte sich rechtzeitig bemühen – und über den exorbitanten Preis hinwegsehen.

Hat der Interessierte diese Hürde genommen, den Weg gefunden und die Wache am Parkplatz von Stonehenge überzeugt, daß er zu Recht und außerhalb der Öffnungszeiten auf das Gelände fahren will, hat er das Besucherzentrum passiert und den Bussteig erreicht, kommt er mit denen zusammen, die das Schicksal für diese Gelegenheit vorbestimmt hat.

In unserem Fall war das die Großfamilie, etwas proletaroid, aber wohlvorbereitet mit Audioguide und Bildband, drei Generationen, vom quengelnden Enkel und den überforderten Eltern bis zum Patriarchen, der sich unregelmäßig mit Kommentaren zur Bedeutung der alten Steine hören ließ. Dann das hübsche junge Paar, er überragte sie um zwei Köpfe, sie trug einen Blumenkranz im roten Haar, der allerdings wegen des allzu perfekten Make-ups jede romantische Wirkung verlor; wie sich zeigen sollte, betrachteten sie das Monument lediglich als Kulisse für Schnappschüsse, die sie ununterbrochen machten. Weiter sah man die obligatorischen Senioren auf Bildungsreise, ein paar Urlauber mit Kulturinteresse und zuletzt das bei Stonehenge unvermeidbare Grüppchen von Neuheiden.

Hier handelte es sich um einen bejahrten Herrn, der gar nicht weiter aufgefallen wäre, wenn er für seine Gesundheitssandalen nicht so demonstrativ auf Strümpfe verzichtet und eine kleine, etwas untersetzte Dame mit ausgesuchter Devotion behandelt hätte. Sie, das graue Haar halblang und etwas zottelig, in weit wallendem, gemustertem Kleid, darüber eine Art Poncho, sicher selbstverfertigt, auf dem man eine stilisierte Spinne erkennen konnte. Die Schamanin übernahm nach Ankunft des Busses am Halteplatz sofort die Führung der kleinen Gemeinschaft, bestehend aus ihrem Begleiter, einem weiteren Herrn und zwei Damen asiatischer Herkunft, die das weitere Geschehen durch dauerndes Gekicher begleiteten.

Während sich alle übrigen mit ihren weltlichen Interessen beschäftigten oder ihren Gedanken nachhingen, von einem Polizisten, der eigens am Steinkreis stationiert war, regelmäßig und freundlich, aber mit Nachdruck aufgefordert, die Finger von dem Monument zu lassen, bildeten die Heiden zuerst einen meditativen Kreis, der dann von der Anführerin unter halblautem Murmeln mit einer Klangschale umrundet wurde. Den Asiatinnen erklärte man, daß man hier im Grunde nichts anderes tue, als die Natur so zu verehren, wie das auch die Weisheit des Ostens lehre. Das Ganze hatte wenig Mysteriöses, wirkte eher liebevoll-wurstig, etwas alternativ und aus der Zeit gefallen, und endete zuletzt auf dieselbe Art und Weise wie bei den übrigen Besuchern: mit Fotos zwischen den Blöcken oder vor dem sogenannten „Druidentor“, von dem man annimmt, daß es ursprünglich den Zugang zum inneren Kreis von Stonehenge markierte. Die Gruppenaufnahmen machte übrigens der Polizist, eine offenbar willkommene Abwechslung seines sonst recht eintönigen Dienstes.

Ihm verdankten wir auch die Hinweise auf das, was sich sonst kaum finden ließ, insbesondere die Sgraffiti, die in die Steine geritzt worden waren und die sich mit bloßem Auge kaum erkennen lassen. Viele stammen aus dem Mittelalter oder der frühen Neuzeit, bevor man die Bedeutung der Anlage begriff; manchmal lassen sich die Verursacher noch den umliegenden Höfen zuordnen. Aber einige der Markierungen sind selbst vorgeschichtlich, zwar nicht so alt wie Stonehenge, das vor etwa 5.000 Jahren errichtet wurde, aber offenbar in der Bronzezeit entstanden, als die Megalithiker, denen wir die Großsteinbauten an den Atlantikküsten verdanken, längst verschwunden waren und andere Bewohner Englands an ihre Stelle traten. 

Zu deren wichtigsten Sinnbildern gehörten Dolch und Axt, die sowenig wie die symbolische Bedeutung der Großsteinbauten auf eine Region oder ein Volk beschränkt waren. Soweit das bei einer schriftlosen Kultur zu erschließen ist, spricht vieles dafür, daß wir es im einen wie im anderen Fall mit Ausdrucksformen eines gemeinsamen Glaubens zu tun haben, der wie der gotische Baustil und die religiösen Inhalte des Christentums eine Vielzahl von Gemeinschaften zusammenhielt, Überreste eines ersten europäischen Zeitalters, lange vor Antike und Abendland. Früher war die Auffassung von der Einzigartigkeit Stone-

henges verbreitet. Heute wissen wir, daß es zahlreiche ähnliche Anlagen gab. Stonehenge überragt sie aber alle durch seine Monumentalität, seine Lage und sein sichtbares Überdauern in der Zeit.

Als unsere Besichtigungszeit endete und wir uns im letzten Licht des Tages einzeln oder in kleinen Gruppen auf den Rückweg machten, hörte man Gespräche da und dort, auch das eine oder andere Lachen, aber man sah auch die, die versonnen Schritt für Schritt setzten und ihren Gedanken nachhingen, offenbar beeindruckt durch das, was sie gesehen hatten.

Für Reisende, die einen längeren Aufenthalt in Großbritannien planen und sich verschiedene Sehenswürdigkeiten anschauen wollen, kann sich eine – zeitlich befristete – Mitgliedschaft bei English Heritage lohnen; die erlaubt den kostenlosen Eintritt in Stonehenge und eine deutlich Preisreduzierung für die speziellen Karten, die für den Zugang in den inneren Steinkreis gekauft werden müssen.

Nähere Informationen zum Besuch von Stonehenge unter:

 www.english-heritage.co.uk