© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/16 / 30. September 2016

Trauerklage über das verwüstete Deutschland
Ein Leben zwischen den apokalyptischen Reitern: Zum 400. Geburtstag des schlesischen Barockpoeten Andreas Gryphius
Wolfgang Müller

Wenn der norddeutsche Melancholiker Johannes Brahms einmal lustig sein wollte, dann stimmte er „Das Grab ist meine Freude“ an. So lautet eine geläufige, zart boshafte Charakteristik des Komponisten, die eigentlich auf den Barockpoeten Andreas Gryphius viel besser paßt.

Weil nämlich der am 2. Oktober 1616 im niederschlesischen Glogau als Pastorensohn geborene Gryphius im Vergleich mit dem zwar kargen Hamburger Jugendjahren ausgesetzt gewesenen, aber bald in der Behäbigkeit der Bürgerkultur des 19. Jahrhunderts geborgenen Tonsetzer wahrlich mehr Grund hatte, dem erbärmlichen Diesseits schnellstmöglich ins Totenreich zu entfliehen. Stand doch schon seine Geburt unter unheilvollen Vorzeichen. Der neue Erdenbürger kam zwischen Ruinen zur Welt: Die Stadt an der Oder hatte im Sommer 1615 eine Brandkatastrophe erlebt. Auf dieser abschüssigen Bahn ging es dann fort: 1618 brach der Dreißigjährige Krieg aus. Dessen Eruptionen erschüttern das politisch, ethnisch, ökonomisch und konfessionell vielschichtige Schlesien mit aller Macht. 

Lehre in friedlichen Orten wie Danzig und Leiden

Im schlachtenreichen Jahr 1621 traf Gryphius’ Vater der Schlag, als er die Herausgabe des Glogauer Kirchenschatzes verweigerte, die der vor Habsburgs Heeren geflüchtete „Winterkönig“ gefordert hatte. 1628 wurde er Vollwaise und wich mit seinem Stiefvater, einem Magister des protestantischen Gymnasiums, aus dem von der Gegenreformation eroberten, überdies von einer zweiten Feuersbrunst vernichteten Glogau ostwärts Richtung Fraustadt aus, einem deutschen Sammelplatz protestantischer Glaubensflüchtlinge unter der Herrschaft des katholischen Polens. Das Glücksrad drehte sich dort wiederum nicht zugunsten des Exilanten, da die Schlesien heimsuchende Pest auch diesen Ort erreichte. Den jungen Gryphius verschonte der von sengenden und mordenden Söldnerhaufen begleitete Schwarze Tod zwar, viele Freunde und Familienmitglieder aber nicht.

Und daran, daß das Leben weiterhin täglich durch Kriegsschrecken bedroht war, änderte sich im Ausweichquartier Fraustadt wenig. Gryphius’ dort entstandener Erstling, das lateinische Versepos „Herodes Furiae et Rachelis lachrymae“ („Herodes Wut und Rachelis Tränen“, 1634), spiegelt darum konsequent die eigene prekäre Verfolgtenexistenz in der aus dem Matthäus-Evangelium bekannten Geschichte von Herodes, „Jerusalems Wüterich“, und dem Kindermord in Bethlehem.  

1634 wechselte der werdende Gelehrte ans Akademische Gymnasium in Danzig, um seine humanistische Bildung zu vervollkommnen. In der Hansestadt, einer sich üppigster Kulturblüte erfreuenden friedlichen Oase inmitten des Infernos, weilte Gryphius zwei Jahre, kehrte dann als Hauslehrer in die Nähe Fraustadts zurück und brach 1638 als Hofmeister adliger Zöglinge ins fernab vom mitteleuropäischen Kriegstheater unbehelligt prosperierende Holland auf, wo er sechs Jahre an der Universität Leiden lernte, dozierte und seinen sich international festigenden Dichterruhm mehrte.

 Gleichwohl entschied er sich gegen ihm angebotene Lehrstühle und übernahm 1650 den Posten eines Syndikus der Landstände im Fürstentum Glogau. Ein Amt, das den seine Dichtung in den Dienst der lutherischen Reformorthodoxie stellenden Juristen in politisch-konfessionelle Querelen mit den in Schlesien expandierenden Habsburgern verwickelte und das ihn vorzeitig verbrauchte. Während einer Ständesitzung erlag Gryphius im Juli 1664 einem Schlaganfall.

Die im Frieden Danzigs und Leidens genossenen Lehr- und Wanderjahre korrigierten die von frühen Leid- und Todeserfahrungen geformten seelischen Einstellungen kaum. Gryphius’ Werk, vor allem aufgrund seiner Sonette der 1630er Jahre, blieb literaturgeschichtlich darum untrennbar mit der Vanitas-Topik verknüpft. In keiner Barock-Anthologie fehlen die Sonette „Abend“ („Der schnelle Tag ist hin/ die Nacht schwingt ihre Fahn“) und „Threnen des Vatterlandes, Anno 1636“ („Wjr sind doch numehr gantz, ja mehr alß gantz verheeret/ […] Die alte Redlichkeit und Tugend ist gestorben;/ die Kirchen sind vorheert, die Starcken vmgehawn,/ Die Jungfrawn sind geschänd; und wo wir hin nur schawn,/ Jst Fewr, Pest, Mord und Todt …“). Vor allem diese „Trauerklage des verwüsteten Deutschland“, die das nicht nur kriegsbedingte Elend der materiellen und geistigen Verfassung des Reiches thematisiert, barg hohes Aktualisierungspotential, wie die Gryphius-Renaissancen nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg beweisen. 

In „Volk und Heimat“

verwurzelte Tradition

Es galt daher nur für das ansehnliche Dramen-Œuvre des Poeten, die Märtyrer-Tragödie „Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Beständigkeit“ (1647) etwa, oder für das absolutistisches Gottesgnadentum verherrlichende Trauerspiel „Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus König von Groß Brittanien“ (1650), wenn eine Autorität wie Richard Newald 1956 urteilte: Bei aller Bewunderung blieben uns seine Bußpredigten ähnelnde Kunst und sein von der Nichtigkeit der Welt durchdrungenes Denken fremd. 

Vielmehr dürfte heute immer noch dem polnischen Germanisten Marian Szyrocki zu folgen sein, der in einer klugen, 1959 in der DDR erschienenen Monographie gerade der „Trauerklage“ und vielen anderen Sonetten des jungen Gryphius eine erstaunliche „Wirklichkeitsnähe“ attestiert. Diese Lyrik sowie die realistische Prosa Grimmelshausens („Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch“, 1668) stünden in einer deutlichen Kontinuität der in „Volk und Heimat“ verwurzelten nationalen literarischen Tradition. Eine Qualität, die sie im Unterschied zum Gros konventionell-unpersönlicher, realitätsferner Barockdichtung zu Recht vor dem Vergessen bewahrt habe.