© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/16 / 07. Oktober 2016

Es lebe die Vielfalt
Traditionelle Volksparteien haben ausgedient, weil sie die Integration ihrer politischen Ränder aufgeben
Werner Patzelt

Eine Ausnahme ohne Bestandsgarantie sind Parteien, die nicht nur einen kleinen Teil der Gesellschaft ansprechen wollen, sondern fast alle Wähler. Daß dies gelingt, kommt noch seltener vor. Zu Unrecht behandeln wir jene Umstände der Bonner Republik wie eine Norm, unter denen es rechts die Union, links die SPD, als Zünglein an der Waage die FDP gab.

Das ist wirklich vorbei. Offen ist nur, ob fürs erste oder überhaupt. Nur eine Volkspartei gibt es noch: Bayerns CSU. Die verbindet attraktive Prinzipien im Großen mit bereitwilliger Pragmatik im Kleinen. So lautet das Lebensprinzip einer Volkspartei. Wer es aufgibt, der schrumpft. Das ist quer übers Land zu erkennen. Geht solcher Wandel aber haltlos weiter? Oder entstehen neue Volksparteien – die Grünen im Südwesten, die AfD im Osten? Für die Antwort lohnt der Blick zurück, denn ihm erschließt sich die großflächige Dynamik hinter kleinteilig Aktuellem.

Zu den Bonner Volksparteien führte wesentlich, daß im frühen Westdeutschland die Ellipse üblicher Parteiensysteme an den äußeren Enden beschnitten war. Allzu Rechtes war diskreditiert durch die nationalsozialistische Vergangenheit, allzu Linkes durch die kommunistische Gegenwart. Unter solchen Bedingungen entfaltete die erfolgreiche Wirtschafts- und Westpolitik der CDU große Sogkraft auf rivalisierende rechte Parteien. Die SPD, seit dem KPD-Verbot von links nicht mehr unter Druck, wurde durch den Godesberger Kurswechsel zu einer zwar am bundesdeutschen Politikkonsens orientierten, dennoch aber andere Prioritäten in Aussicht stellenden Alternative. Dabei suchten Union und SPD ihren Erfolg durch Integration möglichst vieler um einen parteitypischen Programmkern, auch durch wechselseitige Konkurrenz, nicht aber durch Abgrenzung gegenüber den unansehnlichen Rändern. Die SPD zog alle an, die sich als links empfanden, und die Union leistete Gleiches hin zum rechten Rand. 

Das änderte sich, als Abgrenzerei und Ausschließeritis zur Verhaltensnorm wurden. Das war einesteils Folge der durch „68“ und die Entspannungspolitik bestärkten Empfindung, Linkes sei im Grunde gut, doch Rechtes immer schlecht. Also sammelte man um so mehr moralisches Kapital, je klarer man sich nach rechts abgrenzte. Andernteils führte dazu die Integration in der politischen Mitte. Die nämlich beanspruchte bald jede Partei für sich. Dabei galt eine „linke Mitte“ als politisch perfekt, eine „rechte Mitte“ aber als noch unzureichend modernisiert. Insgesamt trat die frühere Abgrenzung der großen Parteien in der Mitte bald zurück hinter dem machtpolitischen Wunsch nach Koalitionsfähigkeit aller, die irgendwie mittig waren. 

Von links her beanspruchten das bald sämtliche Parteien. Das machte die Abgrenzung nach rechts zum gemeinsamen Muß. Ob dabei „rechts“ und „links“ wirklich brauchbare Orientierungspunkte sind, blieb praktisch nebensächlich, solange sich alles Linke positiv formulieren ließ („für Fortschritt, Freiheit, Gerechtigkeit, Humanität …“) und Rechtes schlicht als Negation des Guten galt.

Unter solchen Umständen war es für die Union leicht, sich von NPD oder DVU abzugrenzen. Für die machtbalancierende Integration nach rechts sorgte schließlich weiterhin die CSU. Schwieriger wurde das, als sich die CDU unter ostdeutscher Führung sozialdemokratisierte und der CSU bald falsche Politikansätze vorwarf. So schuf die CDU Freiraum für eine Partei rechts von ihr und außerhalb von Bayern. Dort stellte sich die einst mit anderen Anliegen gegründete AfD auf. Die hat nun die Chance, für die Union zur dauerhaften Konkurrenz von rechts zu werden – allerdings nur so lange, wie sie sich vom weiterhin leicht ausgrenzbaren Rechtsradikalismus fernhält. Die CDU aber büßte ihre einst selbstverständliche Rolle als Volkspartei ein, indem sie die Integration rechter Wähler nicht länger versuchte und zugleich ihre klare Abgrenzung gegenüber den Sozialdemokraten aufgab. 

Diese Lektion mit einer Konkurrenzpartei hat die SPD der Union voraus. Zwar verankerten die SPD-Nachwuchsorganisationen ihre Partei im Umfeld der Kulturrevolution von 1968. Doch davon grenzte sich die Schmidt-SPD ab. In jenem parteipolitischen Brachland kamen dann die Grünen auf. Und in dieser Repräsentationslücke einmal groß geworden, konnte ihnen das Ab- und Ausgrenzen durch Rivalen bald nichts mehr anhaben. Für die SPD – später auch für die CDU – wurden sie deshalb vom Gegner zum Partner, manchmal gar vom Kellner zum Koch. Die Agenda 2010 schuf dann links von den Sozialdemokraten auch noch Platz für eine bundesweite Linkspartei. In Koalitionen mit ihr bezahlt die SPD heute dafür, daß sie ihre kleinen ostdeutschen Landesverbände nach der Wiedervereinigung nicht von reformwilligen PDS-Politikern übernehmen ließ. Die nämlich hätten in einer weiterhin westdeutsch dominierten Bundes-SPD gewiß ihre Heimat gefunden.

Wegen links und rechts entstandener Repräsentationslücken sowie durch falschen Umgang mit diesen wandelte sich so das Bonner Zweieinhalb-Parteien-System zum jetzigen Sechs-Parteien-System. In ihm können nur noch Regionalparteien die Züge einer Volkspartei haben. Obendrein riß eine weitere Repräsentationslücke auf: die zwischen einer politisch-medialen Klasse mit grünem SPD- und CDU-Konsens sowie einer großen Minderheit im Land. In ihr entstand der jetzige Rechtspopulismus. Der wurde zur Geißel von Parteien, die lieber ausgrenzen und dann paktieren wollten, als in ihren politischen Beritten zu integrieren. Schade!






Prof. Dr. Werner Patzelt lehrt Politikwissenschaften an der Technischen Universität Dresden.