© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/16 / 07. Oktober 2016

„Das ist Selbstbetrug“
Der Streit um den Islam und die Masseneinwanderung spaltet Deutschland. Islamexperte Ferhad Seyder warnt, die Debatte bei uns verfehle die Realität
Moritz Schwarz

Herr Professor Seyder, haben Islamismus  und Fundamentalismus mit dem Islam zu tun? 

Seyder: Mit was denn sonst? Mit dem so gern wiederholten Verweis, es sei nicht so, betreiben Sie nur Selbstbetrug. 

Warum?

Seyder: Weil zum Beispiel das, was der Islamische Staat praktiziert, seit hundert Jahren theoretisch an den islamischen Lehranstalten gelehrt wird. Angesichts dessen frage ich mich wirklich, wie man überhaupt zu der Behauptung kommen kann, dabei handele es sich nur um eine Fehlinterpretation. Mir ist das schleierhaft. Ja, es hört sich für mich sogar wie eine Art Witz an. 

Was wird an diesen Universitäten gelehrt?

Seyder: Die Grundlagen, auf denen die Islamisten handeln: ein orthodoxes Verständnis des Islam. Das gehört zum Curriculum eines jeden, der etwa in Kairo, Riad, Amman, Mekka oder einer anderen bedeutenden islamischen Uni studiert. Selbst an solchen in „liberalen“ islamischen Staaten, denn der Staat hält sich da heraus. 

Warum?

Seyder: Zum einen weil es nicht zum Selbstverständnis dieser Staaten gehört, sich da einzumischen. Aber ich glaube auch, weil sie Angst haben, sich mit einem solchen Verhalten in den Augen der Muslime zu delegitimieren.

Ägyptens Präsident as-Sisi hat gefordert, der Islam müsse neu interpretiert werden. 

Seyder: Und hat er diesen Worten Taten folgen lassen? Nein. Warum? Entweder ist er doch zu schwach dafür oder er hat es gar nicht ernst gemeint. Tatsächlich gibt es auch in Ägypten ständig Gerichtsprozesse gegen Islamkritiker.

Islam bedeutet „Frieden“: Finden sich im Koran nicht genügend Inhalte, die ermöglichten, ihn zumindest auch in dieser Hinsicht zu interpretieren? Denn dann stünde der orthodoxen immerhin auch eine legitime „moderne“ Interpretation gegenüber.

Seyder: Wenn Sie ernsthaft über den Islam als eine „friedfertige Religion“ sprechen möchten, wird es sehr schwierig. Denn dann müßten Sie zuvor etwa die Hälfte des Korans außer Kraft setzen. Ganz abgesehen vom Leben des Propheten – das im Islam eine große Rolle spielt und oft alles andere als friedfertig war.

Auch in der Bibel steht aus heutiger Sicht „Problematisches“ , das wir gemeinhin einfach ignorieren. Kann dies nicht auch im Islam gelingen? 

Seyder: Erstens: Ich meine nicht, daß sich Christentum und Islam so leicht vergleichen lassen, wie Sie das tun. Entscheidend für ersteres ist das vom Wirken Jesu Christi geprägte Neue Testament. Dort stehen tatsächlich Frieden und Liebe im Mittelpunkt. Der Islam dagegen ist eine Art „alttestamentarische“ Religion, die zum Beispiel wirklich kein Problem mit Gewalt hat. Jesus war sozusagen „viel weiter“ als Mohammed. Zweitens: Die Interpretation des Christentums im Laufe der Geschichte hat dieses modernisiert. Nicht zuletzt hat dieses sogar mit der Aufklärung Frieden geschlossen. Das haben wir im Islam nicht. Zudem wurden die christlichen Kirchen gezwungen, sich mit dem Glaubensleben der Menschen zu begnügen und auf weitere Machtansprüche zu verzichten. Auch diese historische Entwicklung fehlt im Islam. Dieser betrachtet Staat und Religion als zusammengehörig. Nach westlichem Verständnis nennt man so eine Haltung übrigens totalitär.   

Die Islamverbände hierzulande versprechen allerdings, daß – bei entsprechendem finanziellen Einsatz des Staates, mehr politischer Berücksichtigung der Moslems und vor allem, wenn die Deutschen „Alltagsrassismus“ und Islamophobie überwinden – eben diese „Zivilisierung“ des Islam künftig gelingen wird. Wie glaubwürdig ist dieses Versprechen? 

Seyder: Ich bitte Sie, das fängt schon damit an, daß diese Verbände überhaupt nur etwa fünf Prozent der Muslime in Deutschland vertreten. Natürlich, man muß auch klar sagen, daß viele Muslime hierzulande kein Problem darstellen. Denn längst nicht alle, die formal Muslime sind, sind „echte“, also „gute“ Muslime im Sinne der Religion. Das ist bei den Muslimen auch nicht anders als bei den Christen. Aber davon einmal abgesehen: Wie anmaßend muß man sein, um ernsthaft zu beanspruchen, man könne den Islam von Deutschland aus zivilisieren? Ich weiß, man redet zum Beispiel gerne vom „Euro-Islam“. Aber es tut mir leid, ich halte so etwas für eine Fiktion. Nein, das stürzt uns nur in eine Debatte, die kein Ende hat.  

Was meinen Sie damit? 

Seyder: Der Islam ist eine Textreligion. Diese Texte sind schwer umzuinterpretieren. Was tun, wenn der Koran sagt, daß eine Frau geschlagen werden darf? Es so auslegen, daß damit gemeint ist: Aber nicht krankenhausreif? Halten Sie das für eine Lösung? Also nein, ich meine, ohne den Koran im Prinzip außer Kraft zu setzen sowie das Leben des Propheten kritisch zu beleuchten, wird eine Zivilisierung nicht gelingen.

Und wie läßt er sich außer Kraft setzen?

Seyder: Tja, es gab einmal einen islamischen Gelehrten, der diesen Vorschlag gemacht hat. Er wurde hingerichtet. Islamkritiker sind im Orient eine kleine Minderheit, die verfolgt wird. 

In Deutschland wird die Debatte dennoch mit dem Argument geführt, der Islam müsse nun nur endlich sein Verhältnis zur Gewalt/Frau/Homosexualität etc. klären. Es wird suggeriert, es bedürfe sozusagen nur noch dieser einen intellektuellen Anstrengung, um den Islam mit unserer Gesellschaft kompatibel zu machen. Nach Ihrer Argumentation wäre das aber nur ein Scheinargument, da dies nie – zumindest nicht auf absehbare Zeit – geschehen wird. Werden wir also getäuscht?  

Seyder: In gewisser Weise wird da in der Tat etwas vorgegaukelt, was aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu erreichen ist. Und zwar erstens weil: Wer bitte, soll das machen? Es gibt im Islam keine zentrale Autorität, die das verfügen könnte! Zweitens: Selbst wenn es eine solche gäbe, ist nicht anzunehmen, daß diese den Islam uns zuliebe liberalisieren würde. Tatsächlich läßt sich weltweit beobachten, daß die Tendenz gerade in die andere Richtung geht: Hin zur Orthodoxie. Hin zur Verknöcherung. Phänomene wie al-Qaida oder der IS stehen nicht gegen die Tendenz im Islam – vielmehr zeigen sie deren Richtung an.

Wie ist dann der Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“ zu bewerten?

Seyder: Dieser Satz ist schlicht fahrlässig. Denn er beinhaltet, daß damit alles, was der Islam vertritt, auch zu Deutschland gehört. Also auch dessen Sicht der Frau, dessen Sicht auf Minderheiten und vieles mehr, was in aufgeklärten Gesellschaften höchst problematisch ist. Ich frage mich deshalb: Wissen jene, die so etwas sagen, eigentlich, was sie da sagen? 

Wenn also in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten die unterschwellig versprochene Anpassung des Islams an unsere Gesellschaft nicht zu erwarten ist, was dann? 

Seyder: Voraussichtlich mehr islamischer „Wildwuchs“, mehr Abkapselung und mehr Fundamentalismus. Allerdings ist die Generaltendenz – zumindest wenn die Migration nach Deutschland in diesem Tempo weitergeht – ja ohnehin, daß es hierzulande zu einer Art Vielvölkerstaat kommt. 

Bitte?

Seyder: Wissen Sie, ich habe wirklich nichts übrig für die politische Rechte, aber ich fürchte, in diesem einen Punkt könnte sie vielleicht doch recht behalten.

Nämlich?

Seyder: Das Abenteuer, in Deutschland einen Vielvölkerstaat zu gründen, könnte katastrophale Folgen haben. Denn Vielvölkerstaaten zerfallen einer nach dem anderen. Schauen Sie nach Jugoslawien, Sri Lanka, Zypern, Irak, Libanon, Libyen, Syrien. Nicht einmal Belgien funktioniert richtig – obwohl das ein modernes, europäisches Land ist. Der Vielvölkerstaat ist ein gescheitertes Modell. Dennoch aber steuern deutsche Politiker ihn an. Ich kann nur warnen. 

Könnten wir nicht beweisen, daß er möglich ist, etwa indem wir vorbildhaft auf unsere Nationalität verzichten?

Seyder: Also das klingt für mich utopisch. Nun, wenn schon Einwanderung, dann Assimilation. 

Aber ist das nicht erst recht utopisch? Schließlich gilt hierzulande ja bereits Leitkultur als völlig indiskutabel.  

Seyder: Ich weiß natürlich, daß Assimilation hier lange ein Tabu war. Tatsächlich aber ist sie ein Angebot an alle Einwanderer, die guten Willens sind! Und sie ist weit vielversprechender als das Konzept der Integration, das ja schon lange gescheitert ist. 

Inwiefern?

Seyder: Vielleicht sind Sie zu jung, um das zu wissen, aber die Debatte um die Integration wurde schon vor Jahrzehnten geführt. Ich kann mich gut daran erinnern – damals war ich noch ein junger Student am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Dann kam das Modell der multikulturellen Gesellschaft auf – quasi um zu verdecken, daß das Modell Integration gescheitert war. Nun wird offensichtlich, daß auch das nicht funktioniert, und das Konzept Integration kehrt zurück. Nur, warum sollte es diesmal funktionieren, wo es schon damals nicht funktioniert hat? Nein, statt dessen sollte Deutschland mit aller Konsequenz auf Assimilation setzen. Denn sonst – also falls wir weiter das untaugliche Konzept Integration verfolgen – landen wir im Vielvölkerstaat. 

Warum will die deutsche Politik einen Vielvölkerstaat, wie Sie sagen? 

Seyder: Moment, ich habe nicht gesagt, daß die deutsche Politik ihn „will“. Ich habe gesagt, sie steuert darauf zu. Warum? Weil sie keinen Plan hat. Sie läßt einfach zu, daß sich diese Entwicklung vollzieht. Das hat sicher auch damit zu tun, daß es in Deutschland eine gewisse Tabuisierung der eigenen Identität gibt. Was wiederum wohl etwas mit der deutschen Geschichte zu tun hat. Und es gibt in Deutschland auch Angehörige der Elite, die tatsächlich meinen, Deutschland sollte so viele Einwanderer wie möglich aufnehmen – ja, nicht nur so viele wie möglich, sondern sogar über seine Möglichkeiten hinaus. Jedenfalls, wenn die Zahl der Einwanderer weiter wächst und wenn keine Assimilation stattfindet, dann haben Sie hier in zehn, zwanzig, dreißig Jahren, zehn, zwanzig oder dreißig Millionen Migranten. Egal, die absolute Zahl spielt keine Rolle. Es werden einfach so viele sein, daß sie sich erst recht nicht integrieren. Statt dessen werden sie immer mehr Forderungen stellen – das ist dann der Vielvölkerstaat.

Was bedeutet?

Seyder: Das habe ich schon gesagt. Es ist ganz natürlich, daß dieses Modell zahlreiche Probleme und Konflikte produziert. Beispiele dafür habe ich auch schon genannt, vom politischen Konflikt zwischen Flamen und Wallonen in Belgien bis zur Katastrophe des totalen Bürgerkrieges in Syrien. Wobei ich nicht sage, daß es in Deutschland notwendigerweise zu Bürgerkrieg kommt. Aber mit Sicherheit zu Konflikten, wie sie für Vielvölkerstaaten typisch sind. Für meine Begriffe hat das schon begonnen. Stichwort „Parallelgesellschaft“: Tatsächlich ein absolut verharmlosender Begriff, denn was eigentlich stattfindet, ist der Versuch, eine neue Kultur im Abendland zu etablieren. Und je mehr diese wächst, desto mehr spaltet sich das Land. Zudem werden die Konflikte den Staat illiberaler machen, weil er Normen setzen muß.

Im Klartext?

Seyder: Im Klartext: Liberaler Staat und Masseneinwanderung schließen einander aus. Entweder – oder. Das wird aber in Deutschland nicht verstanden. Statt dessen glaubt man, die Lage in den Griff zu bekommen, indem man Kompromisse macht. Nehmen Sie die Islamkonferenz. Wozu braucht Deutschland eine Islamkonferenz, wenn es eine Verfassung hat? Die gilt doch für alle. Die Islamkonferenz aber ist nichts anderes als eine Extrawurst – ein Zurückweichen des Staates und eine Relativierung der Verfassung. Der Staat hat keine Kompromisse mit gesellschaftlichen Gruppen zu machen. Wo kämen wir hin, wenn er das mit allen machen würde? Nein, der Staat darf sich nicht zu einer innenpolitischen Appeasementpolitik hinreißen lassen. Motto: „Ihr bekommt Extrawürste – bloß keine Bomben!“ Die Bomben kommen sowieso. 

Bitte? 

Seyder: Natürlich. Beispiel Orient: Dort hat die Politik Obamas zu einer enormen Ermunterung geführt. Die Vormacht des Westens hat einen Rückzieher gemacht! Das war ein absolut bestärkendes Signal. 

Also ist es nicht so, wie wir annehmen, daß nur die Art der Masseneinwanderung ein Problem ist. Und wenn wir lernen, sie richtig zu organisieren, ist das Problem gelöst. Das wäre, folgt man Ihnen, ein Irrtum. Vielmehr stellt Einwanderung in dem Moment, wo sie massenhaft geschieht, an sich ein Problem dar?

Seyder: Was soll ich dazu noch sagen? Sie haben das treffend zusammengefaßt. Eben so ist es.






Prof. Dr. Ferhad Ibrahim Seyder, der kurdischstämmige Politologe an der Universität Erfurt, geboren 1950 in Syrien, lehrte zuvor in Berlin, Potsdam, Bremen, Konstanz, Stockholm, Amman und Kairo. 

Foto: Multikulturelles „Myfest“ in Berlin-Kreuzberg (2016): „Ich fürchte, die Rechte könnte recht behalten. Das Abenteuer, einen Vielvölkerstaat zu gründen, könnte katastrophale Folgen haben.“

 

 

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