© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/16 / 07. Oktober 2016

„Es gibt viel Arbeit für euch hier“
Ägypten: Armut, Perspektivlosigkeit sowie ein restriktives Militärregime lassen Hunderttausende von Europa träumen
Marc Zoellner

Eigentlich wollte Abd al-Fattah as-Sisi nur nach Alexandria reisen, um eine moderne neue Wohnanlage – ein Prestigeprojekt seiner Regierung in Zusammenarbeit mit dem hiesigen Militär – offiziell einzuweihen. Doch was den ägyptischen Präsidenten statt dessen am Mündungsdelta des Nils erwartete, ließ selbst dem hartgesottenen Machthaber des nordafrikanischen Landes die Worte stocken. „Was sind die Gründe, warum ihr Ägypten, euer eigenes Land, verlassen wollt?“, beschwor der Präsident statt der geplanten Ansprache seine Zuhörer. „Ägypten wird euch nicht im Stich lassen. Es gibt viel Arbeit für euch hier. Und ich persönlich werde verantwortlich zu machen sein für den Tod einer jeden einzelnen Person, welche aufgrund ihrer illegalen Auswanderung stirbt.“

Kairo hofft auf lukrativen Migrantendeal mit der EU

Wie notwendig as-Sisis Rede war, erwies sich nur wenige Stunden zuvor. Ein Kriegsschiff, welches die Regierung nach Raschid (Rosetta) ausgesandt hatte, fand rund zwölf Kilometer vor deren Küste das Wrack eines Fischerbootes, welches aufgrund seiner Überladung mit 400 bis 600 Migranten kurz nach seiner Abreise gesunken war. Über 200 Leichen sammelten Rettungsmannschaften aus dem Meer. Der Großteil von ihnen stammte aus dem Nildelta selber: junge ägyptische Männer, die Armut, Perspektivlosigkeit sowie einem restriktiven Militärregime entgehen wollen und ihr Heil im wohlhabenden Europa suchen.

Tatsächlich scheint Ägypten einer düsteren Zukunft entgegenzusehen: allem voran aufgrund des Zusammenbruchs seines wichtigsten wirtschaftlichen Standbeins, des devisenbringenden Tourismus. Denn trotz entsprechender Verschärfungen der Sicherheitsmaßnahmen im Land und international lancierter Werbekampagnen stabilisierte sich die Zahl der Ägyptenbesucher zwischen Assuan und Alexandria keineswegs. Gegenteilig sank deren Zahl vom Rekordhoch von 15 Millionen im Jahre 2010 – kurz vor dem Ausbruch des Arabischen Frühlings – auf rund neun Millionen Reisende im Jahre 2015. Mehr als halbiert hatten sich auch deren Ausgaben auf zuletzt nur noch sechs Milliarden US-Dollar pro Jahr.

Rezession und Inflation sind allerorten deutlich spürbar. Das gilt besonders für die Touristenhochburgen: An manchen Tagen bleiben die Einkaufsmeilen von Hurghada und Scharm el-Scheich, den Taucher- und Badeparadiesen am Roten Meer, förmlich menschenleer. Die Regierung gesteht wehmütig ein, daß auch auf den von Einheimischen frequentierten lokalen Märkten die Waren des täglichen Bedarfs knapp sind. „Die Erhöhung der Gehälter und Pensionen für Regierungsangestellte ohne eine gleichzeitige Erhöhung des Warenangebots ist die Hauptursache für die kürzlichen Preiserhöhungen“, lautet die Erklärung des Phänomens in as-Sisis Worten.

Doch insbesondere die jungen Ägypter – knapp 60 Prozent der 95 Millionen Ägypter sind unter 25 Jahre alt – haben von den Beschwichtigungen ihrer Regierung schlicht genug gehört. Sie setzen lieber auf Auswanderung, auf legale oder auch illegale „Flucht“ ins nahe Europa. Von den 300.000 Migranten, die allein bis September dieses Jahres die Überfahrt über das Mittelmeer nach Griechenland und Italien wagten, stammten allein aus Ägypten über 12.000. Eine weitere Viertelmillion sind von den Behörden am Nil als Flüchtlinge registriert. Daß diese Zahl noch weiter anwachsen könne, davor warnte as-Sisi selbst erst kürzlich auf einer Vollversammlung der Vereinten Nationen: Über fünf Millionen Menschen, erzählte der ägyptische Präsident, würden in Ägypten bereits auf ihre Gelegenheit warten, das Mittelmeer zu überqueren.

Was Ägypten dringend benötige, seien Anreize für die Jugend, im eigenen Land zu bleiben: Die Stabilität Ägyptens, so as-Sisi, sei entscheidend für die Sicherheit Europas. Denn würde Ägypten kollabieren, führte der Kairoer Machthaber weiter aus, müsse Europa mit der Ausreise von Millionen von Migranten rechnen, die mit dem Islamischen Staat sympathisierten.

Der demographische Druck, das jährliche Bevölkerungswachstum um dreieinhalb Millionen Menschen, droht das Niltal zu sprengen und das Wirtschaftswachstum zu hemmen. Und as-Sisis Regierung ist im Land nicht gerade wegen unbürokratischer Reformbereitschaft berühmt. Tatsächlich könnten die von as-Sisi genannten Zahlen dazu dienen, mit der EU ein ebenso lukratives Geschäft in „Flüchtlingsfragen“ abzuschließen, wie es der Türkei im Frühjahr gelungen war.