© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/16 / 07. Oktober 2016

Er wollte das Leben verschönern
Moralische Eroberungen: Eine Erinnerung an Karl Friedrich Schinkel, den vor 175 Jahren verstorbenen Baumeisters Preußens
Eberhard Straub

Die vornehmste Aufgabe des Architekten sah Karl Friedrich Schinkel – vor 175 Jahren am 9. Oktober 1841 gestorben – darin, auf die menschlichen Beziehungen veredelnd einzuwirken und ihnen einen gefälligen Rahmen für ihre Entfaltung zu verschaffen. Diese ästhetisierende und zugleich sittliche, also ideale Absicht hing unmittelbar mit der alltäglichen Prosa seiner unzulänglichen Gegenwart zusammen. Sie wurde von vielen großherzigen Geistern als bedrückend und trivial empfunden. Georg Wilhelm Friedrich Hegel resümierte daher ein verbreitetes Unbehagen, wenn er in der Wirklichkeit der neuen Weltzusammenhänge mit ihren unübersichtlichen rechtlichen, moralischen und politischen Verhältnissen nur noch sehr begrenzte Möglichkeiten für ideale Gestaltungen und damit für die schönen Künste sah. Hausväterlichkeit und Rechtschaffenheit, die Ideale redlicher Männer und braver Frauen, machten den hauptsächlichen Stoff des neuen Weltzustandes aus. Das wesentliche Interesse finden unter solchen Voraussetzungen die biedere Gesinnung und subjektive Gemütsergötzlichkeiten. 

Jeder einzelne muß als beschränktes Glied der Gesellschaft in allen möglichen Prozessen reibungslos funktionieren ohne Aussicht, je aus dieser Selbstentfremdung herauszufinden und zur selbständigen, lebendigen Gestalt zu werden, die herzbezwingend mit sich die Menschheit repräsentiert. Hegel hielt es aus diesem Grund für unpassend, in der arbeitsteiligen Welt der Fragmentierungen weiter an Idealen festzuhalten oder sich ein Ideal des Richters oder des Monarchen zu entwerfen, überhaupt an charakteristische, besondere Formen zu denken, in denen sich überpersönliche und typische Vorstellungen eindrucksvoll zu erkennen geben. Auf diese waren jedoch die verschiedenen öffentlichen Bauten stets angewiesen, um als Bedeutungsträger mit Symbolen, Allegorien, Statuen und Emblemen sinnfällig von dem zu reden, was Staat und Gesellschaft zusammenhält. Die repräsentative Kunst und das bedeutungsvolle Schöne gehörten für Hegel zur alten, durch die Revolution umgestürzten Ordnung, die auf anschaulichen Wahrheiten beruhte und nicht auf Abstraktionen, die zum Denken aufmuntern, sich aber jedem plastisch-sichtbaren Ausdruck verweigern. 

Freiheit und Schönheit bedürfen einander

Der vernünftige Philosoph und Historiker, selber ein leidenschaftlicher Liebhaber des Schönen, auf welche Art auch immer es ihm begegnete, schickte sich dennoch klaglos in das Ende der Kunst und die Geschichtlichkeit des Schönen, das seine Zeit gehabt habe und für das es keine Zukunft mehr gebe. Die Kunst und das Schöne sind für ihn köstliche Erinnerungen, aufbewahrt im Museum, die große neue Bauaufgabe, oder gegenwärtig als fast schon unverständliche, doch dekorative Altertümer am Straßenrand mitten in der Stadt. Die neuen Zeiten unaufhaltsamer Rationalisierung, Effizienzsteigerung und Homogenisierung  irritierender Vielfalt, streben im ausufernden Verwaltungsstaat nach systematischer Erfassung  des Staatsbürgers, ihn mit zivilisatorischen Bequemlichkeiten beruhigend, sobald er störrisch werden sollte. Irgendwelche Verspieltheiten lenken vom Ernst des Lebens und dem praktischen Nutzen ab, auf den es in der Gesellschaft immer ankommt. 

Karl Friedrich Schinkel ließ sich von derlei Weltklugheiten nicht sonderlich deprimieren. Er verkehrte in Berlin mit philosophischen Köpfen, mit unruhigen Literaten, feinsinnigen Staatsmännern und Prinzen, die gerade mit geistigen Mitteln in dürftiger Zeit ihren Zeitgenossen Wege weisen wollten, die offenbar unvermeidliche Entzauberung der Welt wenigstens romantisierend abzuschwächen und auf diese Weise der Poesie im nüchternen öffentlichen Raum und im Alltag zumindest einige Reservate zu erhalten. Idealisten, Romantiker und Klassizisten wollten mit Schinkel in Berlin nicht von der Hoffnung Schillers auf die befreiende Macht ästhetischer Erziehung lassen, weil es die Schönheit ist, die zur Freiheit führt. Der zum wahren Menschen Gebildete ist innerlich frei und schön. Freiheit und Schönheit bedürfen einander. Der Staat als Rechts- und Kulturstaat ist auf die Mitarbeit dieser selbständigen, urteilsfähigen Schöngeister angewiesen, die seine Mechanismen biegsamer machen und damit deren Druck mildern. 

Schinkel hatte 1825 in seinem Gemälde „Blick in Griechenlands Blüte“ suggestiv vor Augen gestellt, wie es der Geist ist, der sich seine körperliche Verfassung bildet, eine wohlgeordnete, harmonisch-lebendige, rhythmisch bewegte Lebensform im schönen Staat. Alles wirkt spontan und folgt doch nur Regeln, die freilich von der Natur und ihren Zwängen  befreien und in das wahre Reich des Menschen leiten, in seine zweite und wahre Natur, in das Reich der Kultur.

Was einst in Griechenland unter ganz anderen historischen Bedingungen vorbildlich gelang, konnte und sollte dazu aufmuntern, vor den starren Sachzwängen der Nützlichkeit nicht zu kapitulieren und vielmehr die wenigen noch verbliebenen Spielräume für Phantasie und Spiel konsequent zu nutzen und – falls möglich – auszudehnen, damit an der Spree ein Spreeathen entstehen könne, das die Welt staunen macht wie einst das klassische. Das hieß, nicht die Alten nachzuahmen, sondern in ihrem Geist mit Hilfe ihrer Gesetze des Schönen in einem gänzlich neuen historischen Augenblick zu neuen Lösungen zu gelangen, die bewiesen, wie das regelmäßige Kunstschöne sich dauernd zu erneuern vermag, schlank und leicht wie aus dem Nichts entsprungen. 

Der Architekt ließ sich lebensklug auf die epochalen Gegebenheiten ein. Der freie Künstler oder Auftragskünstler im Dienst von Höfen wurde Beamter. Er trat in die oberste Baudirektion für das gesamte Preußen ein und wurde zuletzt deren Direktor. Sein Amt gewährte ihm die Möglichkeit, nicht nur selber zu bauen, sondern sämtliche Bauten in der Monarchie zu korrigieren, zu verbessern und zu veredeln gemäß seinem geschulten, im Wortsinne erlesenen Geschmack. Ganz Preußen sollte von des neuen attischen Reiches Schönheit und Eleganz künden. Auch darin sahen er, sein König, Minister und Verwaltungsbeamte eine willkommene Gelegenheit zu moralischen Eroberungen in Deutschland und Europa. Schinkel kümmerte sich aber nicht nur um Gebäude. Ihm ging es darum, das gesamte Leben zu verschönern, also auch Möbel, Gebrauchsgegenstände oder bloßen Zierrat zu stilisieren, jeder Funktion ein angenehmes Äußeres zu verleihen. 

Jedes Gebäude ist mit dem Auge empfundene Musik

Sein Kunstwollen, das sich auf alles erstreckte, konnte er in seiner Behörde auf andere übertragen, die – von ihm gebildet und erzogen – überall dafür sorgten, daß Schulen, Gerichte, Zollämter, Rathäuser, Museen, Behörden, bald auch Kaufhäuser und Bahnhöfe wohlproportioniert und angemessen mit erklärendem Schmuck von ihrer öffentlichen Bedeutung kündeten. Einem geordneten Staat sollte gleichsam ein gediegenes, vornehmes Gewand entsprechen, das mit seiner einfachen Vornehmheit jeden Bürger dazu anhielt, sich und sein Äußeres nicht zu vernachlässigen.

Dazu konnte und mußte der Architekt beitragen. Die Historizität des Schönen ließ sich der Gegenwart anverwandeln. Sie wirkte vorerst gar nicht lähmend. Gotische Formen als deutsches Erbe konnten in patriotisch anregenden Denkmälern aufgegriffen und vor allem im Kirchenbau verwandt werden. Die Antike verwies auf die irdischen Schönheiten, die christlich-gotische Kunst veranschaulichte die Sphärenharmonie, eine Vorahnung auf den überirdischen Glanz, auf den veritatis splendor, die prächtige Schönheit des wahren Gottes, das ewige Sinnbild von Freiheit und Schönheit.  Kurz und gut, der Baumeister war ein Dichter und Denker, ein denkender Künstler, wie ihn sich damals die Deutschen wünschten. 

Vor einer dürren Intellektualisierung seiner Konzeptkunst bewahrten Schinkel sein großes Einfühlungsvermögen in die historischen Formen, in die Metamorphosen des Kunstschönen entsprechend ewig gültiger, doch jeweils anders gedeuteter Regeln, und nicht zuletzt seine umfassende Musikalität. Er war ein virtuoser Pianist, er kannte genau Opern und lieferte für sie bis heute unvergessene Bühnenbilder. Auf ihn und seine Werke paßte ein damals sehr oft wiederholter Gedanke des Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, daß nämlich jedes Gebäude nichts anderes sei als eine mit dem Auge empfundene Musik, ein nicht in der Zeit, sondern in der Raumfolge aufgeführtes Konzert von Harmonien und harmonischen Verbindungen. Das läßt sich immer noch in Potsdam in Charlottenhof erleben, im Schloß Klein-Glienicke, auf der Berliner Schloßbrücke mit dem Blick zum Alten Museum oder vor dem ehemaligen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Schinkel gelang, worüber später nunmehr aufgeregt debattiert wurde, die Versöhnung von Kunst und Gegenwart trotz aller Einwände Hegels. Er verlieh Preußen Anmut, Würde und Eleganz.