© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/16 / 07. Oktober 2016

Weißbuch der Bundeswehr 2016
Dokument des Unvermögens
Peter Michael Seidel

Deutsche Weißbücher zur Sicherheitspolitik haben „meist einen vagen Charakter und sind kaum als Handlungsanweisung geeignet. Vielmehr sind sie als Legitimation für die tatsächliche, vom Wortlaut regelmäßig abweichende Praxis zu verstehen“. So Philipp Münch in seiner Studie zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan (JF 35/16), vor Erscheinen des neuen Weißbuchs. Warum also die Beschäftigung mit der neuen, hübsch aufgemachten Broschüre? Weil sie erstmals mit der Tradition deutscher Verteidigungsweißbücher bricht und neue Wege deutscher Sicherheitspolitik formulieren will. Und damit Einblick in das Denken der politischen Eliten in Deutschland gibt, das nach der Brexit-Entscheidung der Briten verstärkt auf den Prüfstand gehört. Die Frage lautet dabei im Einklang mit Münch: Welche Legitimation, welche Praxis? Dazu sollen die drei wichtigsten Beispiele dienen, die Bundeswehrpolitik, die Rüstungspolitik, die Sicherheitspolitik.

Wie um die Beurteilung Münchs Lügen zu strafen, wird im „Weißbuch 2016“ von „der Renaissance klassischer Machtpolitik“ gesprochen. Richtig! Angesichts der Annexion der Krim durch Rußland und der Atolle im Südchinesischen Meer durch China besteht für diese Lageanalyse auch aller Anlaß. Ganz zu schweigen von den Kämpfen im Osten der Ukraine, in Libyen, in Syrien, in  dem Religionen und die Interessen auswärtiger Mächte aufeinanderprallen wie lange nicht mehr. Und doch: Von klassischer Machtpolitik ist im Weißbuch nur ganz zum Schluß einmal zu lesen, auf der vorletzten Seite, im Fazit, und wohl nur der Vollständigkeit halber. Angesichts der unzähligen Wiederholungen im Text fällt das schon auf.

Die Broschüre unterscheidet sich nahezu in allem, was der Leser von früheren Weißbüchern kennt. Auf 140 Seiten geht es nicht um Potentiale, nicht um Ausrüstung und Stärke der deutschen Bundeswehr. Sie teilt sich zwar konventionell in einen sicherheitspolitischen und einen Bundeswehrteil, doch zeigen die Vorbemerkungen, worauf es den Autoren vor allem ankommt. Als „strategische Standort- und Positionsbestimmung“ soll es „Ausgangspunkt für eine neue sicherheitspolitische Debatte“ in Deutschland sein, an der sich „Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Wirtschaft, interessierte Öffentlichkeit und internationales Umfeld“ beteiligen sollen. Das wäre, um es vorwegzusagen, sicherlich der richtige Weg, wenn es statt wolkiger Absichtserklärungen realistische Ziele und Vorgaben gäbe. Statt dessen dominieren Unverständnis für das Wesen militärischer Macht, die Motivation von Soldaten und den Zustand der Bundeswehr.

Die Bundeswehrpolitik. Hier fällt besonders das Kapitel „Chancengerechtigkeit, Vielfalt, Inklusion“ auf. Um „Potentiale besser zu erschließen“, sollen in Zukunft „Alter und Behinderung oder ethnische und kulturelle Herkunft“ als „bunte und vielfältige Chance“ genutzt werden. Bereits heute hat jeder vierte Soldat mit Mannschaftsdienstgrad ausländische Wurzeln (JF 28/16). Die Bundeswehr der Zukunft als „Fremdenlegion“? Täuscht man sich da nicht etwas über die Motivation derer, die aus ihrem Land geflüchtet sind? Oder war die Aussetzung der Wehrpflicht ein Eigentor?

Nicht jeder Soldat muß ein Kämpfer sein. Sicherlich muß der Cyber-Bereich ausgebaut werden. Doch angesichts der vielfach überproportionierten zivilen Verwaltung diese Bürokratie auch noch auszubauen ist schlichtweg kontraproduktiv. Schon jetzt muß die Bundeswehr von wenigen Verbänden abgesehen einzelne Soldaten aus allen möglichen Einheiten für Einsätze zusammenstellen. Münch spricht davon, daß das deutsche Afghanistankontingent aus über 700 Einheiten zusammengesucht werden mußte!

Und dann kein Wort im Weißbuch über den Ruin der berühmten deutschen Auftragstaktik, die steigende Absicherungsmentalität, den massiven Einsatz von Juristen quasi als „Politoffiziere“. Viele einstige Vorteile deutscher Truppenführung sind mittlerweile verlorengegangen und zeugen von einer bewußten Vernachlässigung bewährter Traditionen. Ganz zu schweigen davon, daß die Truppe immer noch auf die Wiedereinrichtung eines Generalstabs wartet, wie er in den Armeen demokratischer Staaten längst üblich ist. Wie soll das zur Zielvorgabe der Bundeswehr als Einsatzarmee passen? Die Zeit ist reif für eine klare Aufgabenteilung und Verantwortungsabgrenzung zwischen politischer Führung und militärischer Ausführung.

Das Weißbuch zeugt von bewußt vernachlässigten Traditionen. Ganz zu schweigen davon, daß die Truppe immer noch auf die Wiedereinrichtung eines Generalstabs wartet. Wie soll das zur Zielvorgabe der Bundeswehr als Einsatzarmee passen?

Die Rüstungspolitik: Neben den multikulturellen Vorstellungen zur Bundeswehr stehen die zur Europäisierung der deutschen Rüstungsindustrie. Dazu heißt es: Aus der nationalen Ausrichtung der Verteidigungsindustrien „resultieren unbefriedigende Kostenstrukturen (...) und damit potentiell höhere Belastungen für unseren Verteidigungshaushalt“. Es gelte daher, „gemeinsam zu planen, zu entwickeln, zu beschaffen und bereitzustellen“. Das klingt logisch, ist es aber nicht. Bereits 2015 verwies die FAZ auf „Anschauungsfälle, die belegen, daß europäische Zusammenarbeit kostensteigernd und zeitraubend wirken kann, statt das Gegenteil zu erreichen“. Exemplarisch genannt werden Eurofighter und der Transporter A400M, die heute noch Probleme machen beziehungsweise auf sich warten lassen.

Ein früherer britischer Verteidigungsminister gestand seinem deutschen Kollegen, „der multinationale Weg, wie er beim Eurofighter beschritten worden sei, führe ins Chaos“. 2015 wiederholte der britische Verteidigungsminister Fallon dies gegenüber seiner heutigen deutschen Kollegin auf der Münchner Sicherheitskonferenz öffentlich und ergänzte, „bilaterale Zusammenarbeit halte Großbritannien für sinnvoll“. Frankreich hingegen wünsche sich „eher eine europäische Finanzierung“ (FAZ, 7. Februar 2015).

Wie bei vielen EU-Projekten wie Struktur- und Kohäsionsfonds, Bankenunion und Wirtschaftsregierung geht es um Umverteilung, hier vor allem auch um Technologiertransfer. Wenn die deutsche Regierung dies mitmachen und auch noch auf den Verteidigungsbereich ausdehnen will, kann man Technologie und Geld gleich verschenken. Bereits eine Fusion von zwei Unternehmen geht allzu oft schief. Es zeigt sich, daß kaum jemand in Europa an einer gemeinsamen Rüstungspolitik interessiert ist. Soll also nach einer Deindustrialisierung durch Atomausstieg die Deindustrialisierung durch Europäisierung der Rüstung in einem weiteren strategischen Bereich forciert werden?

Die Sicherheitspolitik: Die zahlreichen Absichtserklärungen, von denen der Text voll ist, beginnen mit dem Grußwort der Ministerin. Ursula von der Leyen will als Ziel deutscher Sicherheitspolitik vor allem eine „europäische Streitkräfteintegration“ entwickeln, also eine multinationale „Europaarmee“ schaffen, auch wenn das dann im Text nur vorsichtig umschrieben wird. Da will man „den eingeschlagenen Weg konsequent weitergehen“ und bezeichnet das neue Weißbuch als „Meilenstein auf diesem Weg“.

Auch wird deutlich: Die Zielbeschreibung genießt deutlichen Vorrang vor der „Lageanalyse“. Das fügt sich ein in das erklärte Ziel, „mehr Europa“ zu wollen, wie die Kanzlerin inzwischen auch auf dem Feld der Verteidigungspolitik nicht müde wird zu betonen. Dabei wird klar, daß es hier weniger um die Gewährleistung von Sicherheit wie in der Nato geht als vielmehr darum, die bereits zahlreichen multinationalen Einheiten in der EU wie mit Frankreich, Holland, Polen, Dänemark auf immer weitere Länder auszudehnen. Unausgesprochenes Vorbild ist die bereits einmal in den fünfziger Jahren gescheiterte Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Der durchaus sinnvolle Gedanke einer europäischen Arbeitsteilung wird dagegen im Weißbuch nicht einmal mehr erwähnt.

Die interessierte Öffentlichkeit reagiert auf diese Sicherheitsbroschüre mit einem müden Achselzucken, nachdem man den Text lange Zeit nur ausgewählten Journalisten zukommen ließ. Namensartikel gewogener Abgeordneter wie des Wehrbeauftragten werteten ihn auf – der stellte immerhin fest, daß „das neue Weißbuch ohne Heer, Luftwaffe und Marine auskommt“ (Handelsblatt, 7. Juli 2016). Und in der Tat: Die Broschüre quillt über von Fotos junger Frauen, Technischem Hilfswerk, Feuerwehr, Polizei und Entwicklungsdiensten usw., und auch im Text kommen Soldaten allenfalls noch an dritter oder vierter Stelle vor.

Die im Weißbuch vorgestellte Bundeswehr-, Rüstungs- und Sicherheitspolitik ist antieuropäisch, da sie der sicherste Weg ist, Europa weiter schwach zu halten. Die Starken zu schwächen und die Schwachen nicht zu stärken wirkt kontraproduktiv.

Johannes Leithäuser bemerkte, daß das, was „eigentlich ein zukunftsweisendes Instrument sein sollte, (...) im Moment der Beschlußfassung schon zu einer Gegenwartsbeschreibung geworden“ sei (FAZ, 17. Juni 2016) und spricht von „Unvermögen“. Der Beginn einer öffentlichen Diskussion sieht anders aus. Allerdings findet man hier auch den „für Merkel typischen rhetorischen Mix aus Messianismus und Bürokratie“ (FAZ, 29. Juli 2016). Dies paßt und zeigt, daß sich das neue Weißbuch in festgefügte bundesrepublikanische Attitüden und überkommene Politik einfügt. So ist denn dort auch die Rede, die Bundeswehr solle „ihrem verfassungsrechtlichen Auftrag nachkommen“. Die Aussage im Eid, die sich auf das „Recht und die Freiheit des deutschen Volkes“ bezieht, wurde im Weißbuch gestrichen. Das paßt zum Beschluß der Verfassungskommission des nordrhein-westfälischen Landtags, die künftigen Minister nicht mehr auf das Wohl des deutschen Volkes schwören zu lassen. Reinhard Müller kritisierte zu Recht „die Volksparteien, die ihr Volk vergessen haben (...) Wer alles für alle offenhält, ist nicht ganz dicht“ (FAZ, 13. August 2014). Bezugspunkt deutscher Politiker ist heute „die Menschheit“, nicht mehr das eigene Volk.

Deutschland ist kein „Frontstaat des Kalten Krieges“ mehr und nur noch „von Freunden umzingelt“, einem cordon sanitaire sozusagen. Aber reicht das aus, nur noch Symbolpolitik zu betreiben, und wäre es dann nicht ehrlicher, gleich die Bundeswehr abzuschaffen, wie eine linkspopulistische ehemalige Landesbischöfin es vorschlug? Deutschland reicht heute nicht mehr nach Ostmitteleuropa hinein. Durch die Amputation des alten Ostdeutschlands ist das Land definitiv Teil des Westens geworden, hat Rußland nicht ohne eigenes Verschulden einen potentiellen Verbündeten verloren.

Die Übernahme der Aufgabe als „Rahmennation“ im strategisch sensiblen Kaliningrader Korridor zwischen Litauen und Nordpolen zeigt jedoch, daß Deutschland seine Nato-Bündnissolidarität dort untermauern will. So kehrt Deutschland mit eigenen Truppen nach Ostmitteleuropa zurück. Gleichzeitig tut es alles, um sein militärisches Potential zu schwächen. Das soll kein Widerspruch sein? So wie die Bundeswehr nicht für Südeuropa gedacht ist, interessieren sich Süd- und viele Westeuropäer kaum für Mittel- und Osteuropa. Was also bleibt?

Die im Weißbuch vorgestellte Bundeswehr-, Rüstungs- und Sicherheitspolitik ist antieuropäisch, da sie der sicherste Weg ist, Europa weiter schwach zu halten. Eine zukunftsorientierte Politik sieht hier (wie im Wirtschaftsbereich) anders aus. Die Starken zu schwächen und die Schwachen nicht zu stärken ist und bleibt kontraproduktiv. Und dann redet man wie jüngst beim Treffen der Außenminister des „Weimarer Dreiecks“ auch noch davon, der EU sicherheitspolitisch „eine echte strategische Unabhängigkeit“ von den USA zu verschaffen (FAZ, 29. August 2016). Sagen die Trittbrettfahrer amerikanischer Sicherheitspolitik.

Die angestrebten Veränderungen sollen dem Volk verhüllt werden, deshalb wird ihm Sand in die Augen gestreut: Da ist die Rede vom „lebendigen Austausch“ mit den „Menschen in diesem Land“, ihrem „aufrichtigen Interesse“ an den Soldatinnen und Soldaten, denen sie „dankbar“ seien und sich ihnen „verbunden“ fühlten, von einer „Vielzahl von wertschätzenden Gesten und Worten“, dem „Bemühen“ der Bundeswehr, „authentisch und erlebbar“ zu sein, von „persönlicher Erleb- und Erfahrbarkeit“.

Es wäre aber völlig falsch, darüber mit dem schönen Wort Goethes hinwegzugehen, wonach getretener Quark breit, nicht stark werde. Da Globalisierung und Europäisierung inzwischen ihren Gipfelpunkt überschritten haben und Geopolitik und Machtpolitik – ob man es nun begrüßt oder nicht – im Aufwind sind, gilt verstärkt auch für das „Weißbuch 2016“ das Wort Dávilas: „Niemals fehlt es der Nation, die ihren Platz in der Geschichte aufgibt, an ‘edelmütigen’ Ausreden.“ Und so bleibt hier für die maßgebenden Teile deutscher Eliten nur das Fazit: Sie können es nicht, und sie wollen es auch nicht.






Dr. Peter Michael Seidel, Jahrgang 1956, arbeitet als Public-Affairs-Berater und Publizist in Frankfurt am Main. Er war Referent für Sicherheits- und Europapolitik unter den Generalsekretären Heiner Geißler und Volker Rühe in der CDU-Bundesgeschäftsstelle und Geschäftsführer der entsprechenden CDU-Bundesfachausschüsse, anschließend dann politischer Referent im Büro für Auswärtige Beziehungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Deutschland als „verwundbaren Hegemon“ („Kein Wille zur Macht?“, JF 47/15).