© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/16 / 14. Oktober 2016

Noch nie so kooperationsunwillig
Wichtiger Partner und geographisches Bollwerk: Seit 53 Jahren verhandelt Europa mit Ankara
Marc Zoellner

Selten hatte Ömer Çelik in seiner bislang noch überschaubaren Amtszeit derart entschieden dementieren müssen wie vergangene Woche. „Es gab eine Wiederannäherung zwischen der Türkei und Rußland. Und es gab einige Stimmen, die fragten, ob dies eine Unterbrechung sei oder die Türkei dem Westen gar ihren Rücken zudrehe“, bestätigte der seit Mai amtierende türkische Europaminister im Interview mit der Washington Post. „Nein, nichts von dem. Es gibt keine Achsenverschiebung. Und ich glaube, daß jeder, der das behauptet, seinen Kompaß falsch hält.“ Mitnichten sei die Moskaupolitik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan eine warnende Botschaft an den Westen; und mitnichten würde ein Bruch mit der Europäischen Union erfolgen. „Die Leute, die es unterließen, die Türkei nach dem Putsch zu unterstützen, nutzen solche Behauptungen nur als Propaganda“, so Çelik.

Schon EWG stellte Türkei Mitgliedschaft in Aussicht

Und überhaupt: Zwischen der Türkei und dem europäischen Staatenverbund stehe es zwar nicht zum besten. Doch die Türkei bleibe auch weiterhin ein integraler Bestandteil der westlichen Bündnis- und Sicherheitspolitik. Denn immerhin besäßen die multilateralen türkisch-europäischen Beziehungen auch aus historischer Sicht eine stabile Kontinuität – und das bereits seit über einem halben Jahrhundert. Denn genau 53 Jahre dauern die Verhandlungen zwischen der Türkischen Republik und der EU mittlerweile an, beginnend mit dem Ankara-Abkommen vom September 1963.

In Ankara wurde damals zwischen Vertretern der türkischen Regierung sowie der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ein dreistufiger Prozeß zur Schaffung einer gemeinsamen Zollunion vereinbart. Schon zur Unterzeichnung des Vertrags stellte die EWG der Türkei in Aussicht, ein späteres vollwertiges Mitglied ihrer Organisation werden zu können. Daß deren im April 1987 eingereichter Antrag auf Aufnahme in der Europäischen Gemeinschaft (EG) im Dezember 1989 zwar nicht abgelehnt, jedoch auf unbestimmte Zeit verschoben worden ist, sollte auch die künftigen türkischen Regierungen nachhaltig verstimmen. Die EG verwies in ihrer Begründung auf die prekären wirtschaftlichen Verhältnisse der Türkei, die Nichtumsetzung von Zoll- und Steuerrechtsnormen, aber auch auf die von Spannungen bestimmten bilateralen Beziehungen der Türkei zum Nachbarn Griechenland.

Trotz alledem arbeitete Ankara auch in den neunziger Jahren tüchtig am Zutritt zum europäischen Wirtschafts- und Währungsclub. Durchaus erfolgreich: Nach der Aufgabe des griechischen Vetos im März 1995 stimmte das Europäische Parlament mit großer Mehrheit für das Inkrafttreten der europäisch-türkischen Zollunion. Es sollte allerdings der letzte große Schritt der Türkei in Richtung europäischer Integration werden.

Wie bei zänkischen Verlobten gehörten Verwerfungen auf höchster politischer Ebene und wortgewaltiger Schlagabtausch beiderseits des Bosporus schon immer zum Alltagserlebnis zwischen dem vereinten Europa und seinem türkischen Anwärter. Doch noch nie schien die diplomatische Situation derart verfahren und die politische Führung in Ankara derart kooperationsunwillig wie während der Ära des gegenwärtigen Präsidenten Erdogan.

Unbestritten ist die Türkei zum wichtigen Partner der EU sowohl in ökonomischen als auch in sicherheitspolitischen Fragen avanciert. Allein im vergangenen Jahr exportierten europäische Firmen Güter im Wert von beinahe 80 Milliarden Euro nach Kleinasien; die Türkei wiederum ein Warenvolumen von gut 62 Milliarden Euro nach Europa. Überdies dient die Türkei als geographisches Bollwerk, um den unbegrenzten Zustrom von Migranten aus den Bürgerkriegsregionen Syriens und des Irak auf den europäischen Kontinent einzudämmen. Für die langfristige Unterbringung von über zwei Millionen zumeist moslemischer Migranten garantierte die EU Ankara im Gegenzug eine Visumfreiheit türkischer Bürger bei Reisen nach Europa. Einzige Bedingung: Die Türkei müsse 72 bestimmte Kriterien speziell in den Bereichen der Sicherheits-, Flüchtlings- und Grundrechtspolitik erfüllen.

Zwei Drittel der Türken  wollen nicht in die EU

Viele dieser Punkte, wie beispielsweise die Bereitstellung biometrischer Reisepässe für seine Staatsbürger, waren von der Türkei bereits im Vorfeld erfüllt worden. Ganze 67 Kriterien konnten bereits im Mai dieses Jahres ad acta gelegt werden. Doch in bezug auf die Rücknahme von Personen, die unberechtigt die Grenzen überschritten, aber auch auf die rigiden neuen Antiterrorgesetze unter Erdogans Ägide scheint die Türkei sich keinen Millimeter mehr bewegen zu wollen. Und Europa ebensowenig.

Das Patt hat spürbare Auswirkungen auch auf die realpolitischen Beziehungen der Bosporusrepublik zum paneuro­päischen Staatenverbund: Insbesondere, da die für Juli dieses Jahres vereinbarte Visumfreiheit von Brüssel auf unbestimmte Zeit verschoben worden ist. Kritisch beäugen die Vertreter der EU die türkischen Antiterrorgesetze, welche nach dem gescheiterten Putschversuch im Sommer noch einmal verschärft worden waren und zu massiven Verhaftungs- sowie Entlassungswellen im ganzen Land geführt hatten. Deren Lockerung jedoch sei eigentlicher Bestandteil der Verhandlungsrunden speziell um die neuen Reisebestimmungen gewesen. Durch die Säuberungen des türkischen Staats- und Regierungsapparats von mutmaßlichen Gülen-Anhängern wird daraus nun nichts.

Daß die Türkei in nächster Zeit Fortschritte beim EU-Beitritt erzielen kann, daran glaubt sogar im eigenen Land kaum noch ein Bürger. Lediglich noch 22 Prozent aller Türken, ergab eine kürzlich veröffentlichte Studie der „Türkisch-Europäischen Stiftung für Bildung und wissenschaftliche Forschung“ (TAVAK), würden eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU überhaupt noch für möglich halten. Über 64 Prozent der Befragten hingegen sähen keine Zukunft der Türkei im Staatenverbund. Die Ablehnung des Islam in Europa (59 Prozent) und die Oppositionshaltung Frankreichs zum Türkeibeitritt (56 Prozent) seien für die Befragten die entscheidendsten Gründe, warum auch künftige Verhandlungen zu scheitern drohten.

Überraschend bestätigten allerdings auch 28 Prozent aller türkischen EU-Skeptiker, im Vergleich zu Europa weise ihr Land einen eklatanten Mangel an demokratischen Standards auf, und sehen die Türkei anstelle der EU primär in der Bringschuld für künftige runde Tische.