© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/16 / 14. Oktober 2016

Privatdetektive befragen Nachbarn
Bildungswesen: Der Kampf um einen Platz an den besten Grundschulen wird oft vor Gericht ausgetragen
Peter Möller

Jedes Jahr im Herbst spielt sich in Berlin ein Drama ab. Die Hauptdarsteller in diesem Stück: verzweifelte Eltern, findige Rechtsanwälte, genervte Schulleiter und überforderte Schulämter. Und als Statisten: Kinder, die sich eigentlich nur auf ihren ersten Schultag freuen. 

Denn kaum sind die Erstkläßler eingeschult, entbrennt in Berlin bereits der Kampf um die Plätze an den Grundschulen für das nächste Jahr. Wie in vielen Bundesländern werden den Grundschulen in der Hauptstadt festumrissene Einzugsgebiete zugewiesen. Alle Kinder die in einem solchen Gebiet wohnen, bekommen einen Platz in der dazugehörigen Schule. Kinder von außerhalb haben in der Regel nur eine Chance, wenn zufällig nicht alle Plätze belegt werden – oder ihre Eltern die Gerichte einschalten. Und das kommt immer häufiger vor.

In Berlin gibt es seit Jahren einen gewaltigen Qualitätsunterschied zwischen den staatlichen Grundschulen. Während manche Schulen als Geheimtip gehandelt werden und der Andrang dementsprechend groß ist, haben es andere Grundschulen aufgrund der dort herrschenden Zustände sogar deutschlandweit zu trauriger Berühmtheit gebracht. So etwa die Lenau-Schule in Berlin-Kreuzberg (JF 36/12): Ein brisanter Mix von besonders vielen Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund und aus sozial schwachen Verhältnissen rief sogar überregionale Blätter wie die Zeit und die Süddeutsche Zeitung auf den Plan. Vor allem in den westlichen Stadtteilen mit einem hohen Ausländeranteil ist die Situation an vielen Grundschulen prekär. Hier geht es schon längst nicht mehr darum, die Kinder ausländischer Eltern zu integrieren, sondern darum, wie die wenigen deutschen Kinder sich noch behaupten können. Hinzu kommt die chronische Unterfinanzierung und der milliardenschwere Sanierungsstau an den Berliner Bildungseinrichtungen.

Scheinanmeldungen im Visier von Anwälten

Bei der Schulanmeldung werden viele Eltern, die sich bislang nicht für das staatliche Bildungswesen in der heruntergewirtschafteten Hauptstadt interessiert haben, erstmals mit den Folgen sozialdemokratischer Mißwirtschaft in der Bildungspolitik konfrontiert. Sie müssen sich dann mit bröckelndem Putz, undichten Fenstern und stinkenden Schultoiletten auseinandersetzen. Viele reagieren geschockt, wenn ihnen spätestens bei einem der obligatorischen Vorstellungsabende, auf denen sich die Schulen in einem möglichst guten Licht zu präsentieren versuchen, bewußt wird, daß sie ihren behüteten Nachwuchs bald jeden Tag dieser rauhen Wirklichkeit aussetzen müssen. Vor allem den zahlreichen nach Berlin zugezogenen Eltern steht das Entsetzen dann ins Gesicht geschrieben. „Ich habe da mal eine Frage“, sagte ein offenbar aus Süddeutschland stammender Vater kürzlich bei einem dieser Abende vorsichtig, „sind alle Schulen in Berlin in so einem schlechten Zustand?“

Für Eltern, denen die anstehende Schulkarriere ihrer Kinder wichtig ist, beginnt spätestens nach diesem Realitätsschock die hektische Suche nach einem Weg, wie sie ihr Kind vor dieser Situation retten können. Nicht wenige holen sich dann juristischen Rat, wie sie ihr Kind doch noch auf eine andere Schule schicken können.

Eine Legion von Anwälten hat sich mittlerweile auf dieses lukrative Geschäft spezialisiert. Sie bieten standardisierte Beratungsgespräche an und begleiten ihre Mandanten wenn nötig durch alle Instanzen. Denn immer öfter wird in Berlin der Klageweg beschritten. Die Anwälte, die häufig über beste Kontakte in die Schulämter verfügen, gehen dabei nicht zimperlich vor. Vor allem die sogenannten Scheinanmeldungen haben sie in den vergangenen Jahren ins Visier genommen.

Denn aus Verzweiflung greifen Eltern tief in die Trickkiste, wenn ihnen klar wird, daß sie nicht im Einzugsgebiet der Wunsch-Grundschule wohnen. Wenn ein Umzug nicht in Frage kommt, machen sich betroffene Eltern oft auf die Suche nach Freunden oder Bekannten, die im Umfeld der Schule wohnen. Dort meldet sich dann ein Elternteil zum Schein an. Die Anwälte, die versuchen, für ihre Mandanten einen der begehrten Plätze an einer angesehenen Grundschule zu erstreiten, machen daher regelmäßig Jagd auf diese Scheinanmelder. Denn wenn der Anwalt dem Schulamt und der betroffenen Schulleitung nachweisen kann, daß ein Platz an ein Kind vergeben wurde, das nur zum Schein im Einzugsgebiet gemeldet ist, muß dieser Platz neu vergeben werden – und damit steigen auch die Chancen für die anwaltlich vertretenen Kinder auf der Warteliste. Die Juristen fahren dabei schwere Geschütze auf. Die Schulleitungen und Behörden berichten von Privatdetektiven, die in Verdachtsfällen vor Ort für die Anwälte recherchieren und Nachbarn befragen, ob die gemeldeten Personen tatsächlich unter der Adresse wohnen. Nicht selten mit Erfolg.

Welches Ausmaß das Problem der Scheinanmeldungen erreicht hat, machte ein betroffener Schulleiter deutlich. „An unserer Schule haben Anwälte einige Scheinanmeldungen aufgedeckt. Danach haben wir uns alle Anmeldungsbögen noch einmal genauer angeschaut – und haben noch viel mehr falsche Adressen entdeckt“, berichtete er. Mittlerweile stellen die Schulen schon eigene Nachforschungen an, wenn ein Kind „verdächtig“ kurzfristig vor dem Termin zur Schulanmeldung in das Einzugsgebiet gezogen ist.

Ziehen die Eltern vor Gericht, um für ihr Kind einen Platz an einer begehrten Grundschule zu erstreiten, kostet das nicht nur viel Geld, sondern auch Zeit und Nerven. Mitunter entscheidet sich erst kurz vor dem Einschulungstermin Anfang September, ob es mit der Wunschschule klappt. Enttäuschungen und Tränen bleiben da nicht aus.

Vor Wahlen versprechen Politiker das Paradies

Der desolate Zustand der Berliner Schulen, der die Hauptursache für den Kampf um die Grundschulplätze ist, war im Sommer wieder einmal Thema im Wahlkampf. Zwei Monate vor der Wahl zum Abgeordnetenhaus Mitte September legte die seit Jahren in Regierungsverantwortung stehende SPD schnell noch ein Sanierungskonzept für die Lehranstalten vor. Mit 5,5 Milliarden Euro soll der Sanierungsstau an den Schulen beseitigt werden, versprach der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) – allerdings gestreckt über einen Zeitraum von zehn Jahren. Glauben schenkt diesen Versprechungen in Berlin kaum noch jemand. „Schon vor den Wahlen 2011 haben uns die Politiker das Paradies versprochen. Doch es ist nicht gekommen“, kommentierte ein resignierter Schulleiter. „Deshalb erwarten wir auch nicht, daß das Paradies nach diesen Wahlen kommt.“ Das Herbst-Drama an den Berliner Grundschulen wird daher bis auf weiteres auf dem Spielplan bleiben.