© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/16 / 14. Oktober 2016

Dorn im Auge
Christian Dorn

Mein Blick am Kiosk gleitet über die Zeit, die „auf der Suche nach einem strapazierten Gefühl“ allen Ernstes mit der Frage titelt: „Wozu ist Heimat gut?“ Ganz einfach, denk ich: Um nicht als Ahasver zu enden. Nachmittags in der S-Bahn dann ein verstörendes Bild, als befände ich mich im Ausland. Allerdings mit einem Vorteil: Keiner schaut mißbilligend, da ich im Buch von Michael Klonovsky „Die Liebe in den Zeiten der Lückenpresse“ über die Absurditäten der „Willkommenskultur“ lese – in dem Augenblick stürmt ein dreiköpfiges Zigeuner-Kommando den Zug, um die Mitreisenden finanziell zu erleichtern. Musikanten imitierend, während die Musik aus der mitgeführten Lautsprecherbox dröhnt, singen sie für eine halbe Minute den Gospel „When the Saints go marching in“ – eine wirklich enervierende Nummer. Nach ein paar Takten und einer Handvoll Euro-Münzen stoppen sie die Musik vom Band, setzen sich direkt neben mich, so daß ich alle sieben Sachen festhalten muß, und warten auf den nächsten Halt, um den Raubzug in der gegenüber haltenden Bahn fortzusetzen.


Nicht nur die Schönheit liegt im Auge des Betrachters, Gleiches gilt für die Ordnung im öffentlichen Raum. Ein enger Freund von mir betreibt seit diesem Frühjahr das Unternehmen Urban Ground Development Ltd. – jedenfalls nennt er so seine Praxis, die auf Straßenland ausgesetzten Bücher, CDs und Markenklamotten aufzuklauben und diese im Internet zu verkaufen. Die Summe der Erlöse soll nach seiner Auskunft inzwischen den aktuellen Wert einer Feinunze Gold übersteigen. Das Geld liegt also wirklich auf der Straße.


Als ich abends auf dem Heimweg mit meinem Smartphone ein Veranstaltungsplakat fotografiere, bleibt unmittelbar neben mir ein schwarzer Mann stehen, der sich einen Gürtel herauszieht, diesen wie eine Schlinge in die Hand nimmt und hinter mir vorbeiläuft. Ohne es äußerlich zu zeigen, fürchte ich einen möglichen Angriff. Der Schwarze kann offenbar meine Gedanken lesen. Wenige Meter weiter, bevor er um die Ecke verschwindet, dreht er sich plötzlich um und sagt: „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich tue dir nichts.“ – Soweit sind wir also gekommen: Unbestreitbare Fortschritte in der Telepathie durch die Reaktivierung archaischer Reflexe. Treffe darauf einen Musiker der israelischen Metalcore-Band Wounds never lie. Er zitiert den arabischen Satz, den der israelische Soldat als erstes lerne: „Wakaf, wakaf, walla ana batuha“ – Stopp, stopp, oder ich schieße.