© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Die Fußstapfen sind ihm zu groß
Literaturnobelpreis 2016: Warum der US-Sänger Bob Dylan ihn nicht verdient hat
Elliot Neaman

Die Vorsitzende des Nobel-Komitees, Sara Danius, blickte 2.500 Jahre zurück, als sie die Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan begründete. Sie erwähnte Homer und Sappho. Die antiken Dichter hätten poetische Texte fürs Zuhören und Aufführen, oft auch für Instrumente geschrieben – „auf die gleiche Weise wie Bob Dylan“.

Um es vorsichtig auszudrücken: Die Fußstapfen der beiden sind sehr groß. Daher verwundert es nicht, daß sofort eine Kontroverse über die Preisvergabe ausgebrochen ist. Und sie ist auch geboten. Ist Dylans Werk ein literarisches? Gehört er in das Pantheon der großen Künstler vergangener Zeiten? Die Schwedische Akademie scheint diese kritischen Fragen antizipiert zu haben, indem sie die Wörter „zuhören“ und „aufführen“ betonte. Anspruchsvolle Kritiker halten große Philosophen und Historiker für Literaten – aber nicht einen „Song and Dance Man“, wie sich der heute 75jährige einmal selbst genannt hat.

Dylan ist nicht der erste Musiker, der den Nobelpreis erhält. 1913 bekam der Inder Rabindranath Tagore die Auszeichnung. Aber er schrieb auch Romane und Dramen. Im Gegensatz dazu kann Dylans 1965 geschriebenes Buch „Tarantula“ kaum als literarisches Meisterstück betrachtet werden. Vergleiche mit früheren Preisträgern geben jenen Kritiker recht, die Dylans Leistungen für zu dünn halten. Er spielt nicht in derselben Liga wie Alexander Solschenizyn, Samuel Beckett, Albert Camus, Ernest Hemingway, Bertrand Russell, William Faulkner, T.S. Eliot, André Gide, Henri Bergson, George Bernard Shaw oder Rudyard Kipling und auch nicht auf Augenhöhe mit den deutschen Preisträgern Hermann Hesse, Thomas Mann und Theodor Mommsen.

Sein Werk umfaßt mehr als 500 Lieder

Doch die Frage, ob ein Nobelpreis verdient ist, ist nicht neu. Hatte Barack Obama ihn verdient, als er 2009 gerade am Anfang seiner ersten Amtszeit stand? Hat die Nobel-Akademie damals nicht vielmehr ein politisches Ausrufezeichen gesetzt? Ging es nicht mehr um den ersten schwarzen US-Präsidenten – gerade nach George W. Bush, der den Irak-Krieg begonnen hatte? War die Vergabe des Literaturnobelpreises von 1997 an den italienischen Witzbold und Dramatiker Dario Fo nicht auch eine politisch motivierte Auszeichnung? Wohl weniger Fos fragwürdige literarische Fertigkeiten entsprachen dem schwedischen Geschmack als vielmehr seine politischen Neigungen.

Dylan, der Wortakrobat aus Minnesota, hat nicht nur eine Œuvre von mehr als 500 Liedern verfaßt. Auch seine Rolle als Kulturbarometer des späten 20. Jahrhunderts darf nicht unterschätzt werden. Dylans Werk ist tatsächlich das Sammelsurium der amerikanischen Popkultur und Folkmusik. Viele seiner Alben fördern diese Traditionen und heben verlorene Schätze. Dylan wurde bereits insofern mit Shakespeare verglichen, als daß der Dichter aus Avon ebenfalls historische Erzählungen, Fabeln und Legenden in seine Stücke integrierte. Diese waren auch längst vergessen, bevor er sie zu neuem Leben erweckte.

Aber wird Dylans Werk auch unsere Zeit überleben? In seiner mehr als fünfzig Jahre andauernden Karriere hat er Lieder von großer Intensität und lyrischer Kraft geschaffen, die sie zum kollektiven Gedächtnis einer ganzen Generation geworden sind. Dabei hat er sich nie – wie viele Musikkritiker – als die „Stimme der sechziger Jahre“ betrachtet. Als er 1961 in New York auftrat, feixten andere Songwriter über seine Woody-Guthrie-Imitation in Schlabberhosen und Countryhemd. Er fabrizierte lange Erzählungen über ein Leben als Landstreicher, das Entern von Güterzügen, um damit durchs ganze Land zu kommen. Aber Dylan merkte schnell, daß die neue Jugend-Protestkultur das Revival der vierziger und fünfziger Jahre mit den Protagonisten Woody Guthrie, Pete Seeger, Burl Ives, Lead Belly verdrängte. Er adaptierte den neuen Trend, gab das Image auf und schlüpfte in eine glatte schwarze Jacke sowie spanische Lederstiefel. 

Genauso opportunistisch waren seine politischen Botschaften: Seine Lieder über den radikalen Kampf für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit übernahm er – der als Kind einer jüdischen Mittelschichtsfamilie diese Erfahrungen nie hatte machen müssen – oft von Blues- und Folk-Sängern, die Rassismus und Armut wirklich am eigenen Leib erfahren hatten. Dylan konnte diese Identitäten kapern und abstreifen wie eine Schlange, die sich häutet. Als er älter wurde, transfomierte er sich in eine Reihe neuer Persönlichkeiten: Cowboy-Outlaw, wiedergeborener Christ, Einsiedler und dann als Gedächtnissammler wie der „Giver“. Dieser alte Mann aus dem Roman von Lois Lowry bewahrt die Seelen einer künftigen Gemeinschaft auf, die alle ihre Spuren der Vergangenheit verloren hat.

Wortspiele beschwören Traumbilder herauf

Dylans Texte sind berühmt dafür, vage und ungeordnet zu sein. Sie verbinden unvereinbare Bilder, bringen dabei Raum und Zeit durcheinander. Aufregend innovativ ist, daß er Wortspiele in den alten dreiakkordigen Folk einführte. Dabei entlieh er Elemente von James Joyce, William Burroughs sowie Allen Ginsberg und schuf so ein neues Genre, das eine nachhaltige Wirkung auf andere Songwriter der sechziger und siebziger Jahre ausübte. Legendäre Folk-Rock-Sänger wie Paul Simon und Bruce Springsteen kopierten seine Methode, mit seltsam zusammengestellten Wörtern und Sätzen Traumbilder heraufzubeschwören, die tief in die amerikanische Psyche eingedrungen sind. Und Rapper konnten sich Inspirationen aus Liedern wie „Subterranean Homesick Blues“ holen.

In Martin Scorseses meisterhaftem Dokumentarfilm „No Direction Home“ von 2005 sehen wir den jungen Dylan, wie er sich über eine Schreibmaschine beugt; die Worte strömen förmlich aus ihm heraus. Dabei grinst er seine Freundin und Songwriter-Kollegin Joan Baez boshaft an und bemerkt: „Das wird die Englisch-Professoren für eine lange Zeit beschäftigen.“ Er war sich seines kreativen, wirren Umgangs mit Worten bewußt – egal ob die Sätze Sinn ergaben oder nicht. Seine Texte bearbeitete er nie. So hinterließ Dylan Lieder in verschiedenen Varianten und quälte sich nicht damit, sie zu harmonisieren.

Die Gelegenheit verpaßt, große Literaten zu ehren

In dem Film erzählt Dylan, daß er nie wieder imstande wäre, ein Lied wie „A Hard Rain’s a-Gonna Fall“ zu schreiben. Der Song entstand im Sommer 1962, basierend auf englisch-schottischen Balladen wie „Lord Randal“, in der ein junger Graf und dessen Mutter ein dunkles Geheimnis lüften. Das Lied gilt als Warnung vor einem Atomkrieg, und Dylan befeuerte den Mythos, indem er sagte, das Lied sei eine Antwort auf die Kuba-Krise. Allerdings verschwieg er, daß er den Song Monate vor dem amerikanisch-sowjetischen Konflikt fertiggestellt hatte. In der letzten Strophe greift Dylan in einer äußerst bruchstückhaften Art die Hauptthemen des Protestes der sechziger Jahre auf: „empty hands“ (leere Hände) stehen für Armut, „pellets of poison“ (Giftkügelchen) für Umweltverschmutzung, „executioner’s face“ (Gesicht des Henkers) für die juristische Gerechtigkeit, „souls are forgotten“ (Seelen sind vergessen) für Armut und „none is the number“ (niemand ist eine Zahl) für rassistische Vorurteile.

Seine Texte entfalten ihre volle Kraft nur, wenn sie gesungen werden. Dylan ist vor allem ein Musiker, kein Texter. Ihm den höchsten Preis fürs Schreiben zu geben ist etwa so, als wenn ein Koch drei Michelin-Sterne für seine Kochbücher erhielte. Bereits vor dreißig Jahren schrieb ein Kritiker der New York Times, daß Dylans „rohe, aufdringliche Biegungen und unverwechselbaren Formulierungen in angeberischem Getue zusammenbrechen, wenn sie von ihren vorwärtstreibenden Musikstücken getrennt werden, die ihnen wenigstens ein Mindestmaß an Überzeugung schenken“.

In einer Zeit, in der Videos und Textfragmente auf omnipräsenten Bildschirmen literarische Arbeit ersetzen, mögen die Nobelpreis-Juroren geglaubt haben, daß sie mit der Zeit gehen. Aber sie haben dem Schreiben als einzigartiger Kunst einen Bärendienst erwiesen. Sie haben die Gelegenheit verpaßt, einige große Literaten zu ehren, die vielleicht aus einer unbekannten Ecke der Welt kommen und die wir in Europa und Amerika nicht kennen.

Dylan wurde für seinen weltweiten Einfluß auf die Popmusik mit vielen Grammys und einem Pulitzer-Preis bereits hinreichend gewürdigt. 2008 schaute Präsident Obama in der ersten Reihe zu, als Dylan „The Times They Are a-Changin’“ spielte, um der Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre seinen Tribut zu zollen. Dies sind die richtigen Auszeichnungen für einen Mann, der sicher ein Gigant der Popkultur des 20. Jahrhunderts ist. Aber all das macht aus Bob Dylan noch lange keinen zeitgenössischen Homer.






Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt europäische Geschichte an der University of San Francisco. In seiner Studentenzeit klampfte er in Kneipen gern Lieder von Bob Dylan.