© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

„Ich lüge nur mit Wahrheiten“
Wolf Biermann stellt im Berliner Ensemble seine Autobiographie vor
Christian Dorn

Warte nicht auf bessre Zeiten“ – der Titel der Autobiographie des bald achtzigjährigen Dichters und Liedermachers Wolf Biermann versteht sich von selbst. Doch könnte genausogut ein anderes Zitat aus seinem Werk den Lebenserinnerungen voranstehen, etwa: „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“. Dabei ist dieses dialektische Diktum für manch einstigen Weggefährten Ausweis der Selbstgerechtigkeit des Egomanen Biermann, der – 1936 in die Kirche des Kommunismus hineingeboren – vor vierzig Jahren ausgebürgert wurde und damit den Anfang vom Ende der DDR einläutete. Dabei läßt er bis heute den „Klassenstandpunkt“ vermissen. So fragte ihn der Deutschlandfunk, über dessen Nachrichten Biermann einst im Autoradio von der eigenen Ausbürgerung hörte, allen Ernstes, warum er in seiner Autobiographie „kein einziges Wort“ über den „erstarkten Rechtspopulismus“ verloren habe. Darauf Biermann: er sei „keine Tageszeitung“. 

In der Autobiographie findet sich auch nicht jene Anekdote, die ein früherer Konzertmanager Biermanns bei der Ausstellung „Ende vom Lied“ (JF 36/16) berichtete: Nach einem Konzert in Frankfurt am Main, wo Biermann in der Oper gastiert hatte, wollte dieser, berauscht von seinem Auftritt, sich der Taxifahrerin unbedingt bemerkbar machen, die aber darauf nicht einging. Als sie die Oper passierten, wies der Liedermacher mit dramatischer Geste zum Fenster und rief mit Nachdruck: „Hier habe ich gerade ein Konzert gegeben.“ Darauf die Taxifahrerein: „Ja, und bei mir hat schon Napoleon im Taxi gesessen.“ Das saß, Biermann war mit einem Mal ebenso verstimmt wie verstummt. 

Ganz anders der Abend der Buchvorstellung im Berliner Ensemble, wo Biermann kokettiert: „Ich bin kein Anfänger: Ich lüge nur mit Wahrheiten.“ Dabei hätte der Ort nicht besser gewählt werden können – erscheint er doch, thetralisch verklärt, als der Ursprungsort des Mysterienspiels Kommunismus. So hatte Biermann, von Hanns Eisler zum Liedermacher geadelt, hier einst am Haus von Helene Weigel assistiert. Der Verleger preist die Autobiographie als Memoiren der Zeitgeschichte an, wie sie nur alle paar Jahrzehnte erscheinen. Daß der „Schelmenroman“ an Schwejk und Grimmelshausen erinnere, ist wohl übertrieben. Dennoch besticht Biermanns „großer, überwältigender Deutschlandroman“ (FAS) durch seine Sprachgewalt, nicht zuletzt durch das dialektische Wortspiel. Für Welt-Herausgeber Stefan Aust steht Biermann zwischen Bertolt Brecht und Heinrich Heine, die sich ebenso an Deutschland abgearbeitet hätten. 

Für Biermann ist dies freilich der Kommunismus, die Zerreißprobe beginnt schon in der Schule in Hamburg: „Wir waren ja Klassenkameraden und Klassenfeinde zugleich.“ Unfreiwillig komisch wie prophetisch wirkt da ein Foto in der FDJ-Zeitung Junge Welt, wo Biermann als Jungpionier aus Hamburg das Grußwort „für die ganze deutsche Jugend“ spricht. Dermaßen vorbereitet, führte der Weg des damals 16jährigen Biermann von der Vaterstadt in das „Vaterland der Werktätigen“, wo er „von den Richtigen das Richtige lernen“ und den Kommunismus aufbauen will. Verständlich wird diese tiefe Prägung über die familiäre Herkunft, die Biermanns Autobiographie einleitet und die in knappen, emotional bewegenden Sätzen das Schicksal seines Vaters, Dagobert Israel Biermann, nachzeichnet, der als Kommunist eingekerkert und als Jude in Auschwitz ermordet wurde. Dabei wirken die Überschriften der ersten beiden Kapitel wie Anleihen aus Celans Todesfuge. 

Getreu dem Brechtschen „Verfremdungseffekt“ liest daraus aber nicht der Autor, sondern der Schauspieler Burghart Klaußner, der auch das Hörbuch der Autobiographie eingesprochen hat – und damals „flüchtig“ dabei war: Am Abend des legendären Biermann-Konzerts in der Kölner Sporthalle am 13. November 1976, ausgerechnet dem Geburtstag von Biermanns Vater, stand der Schauspieler Klaußner in Köln auf der Bühne im Gorki-Stück „Nachtasyl“. Da dieser nur eine kleine Rolle im ersten und vierten Akt hatte, machte er (kostümiert) einen Abstecher zum Konzert. Jetzt liest Klaußner vor, wer damals alles einen Abstecher zu Biermann in die Chausseestraße 131 machte, darunter Joan Baez, Allen Ginsberg, Udo Lindenberg, Herbert Marcuse, Klaus Rainer Röhl, Ulrike Meinhof oder Rudi Dutschke. Biermanns „groteske Wahrheit: Ausgerechnet in den elf Jahren meines Totalverbots war ich der wohl am wenigsten isolierte Mensch in der DDR.“ Anders als die SED-Machthaber. Die schickten Dutschke und Biermann ein Heer von Blauhemden, als beide bei den Weltjugendfestspielen 1973 in Ost-Berlin aufkreuzten. Darunter als Aufpasser, direkt hinter Biermann, ein Doktorand an der Humboldt-Uni, der aber nicht in die Diskussion eingriff. Sein Name: Joachim Sauer. Zum Geburtstagskonzert Biermanns am 18. November im Berliner Ensemble wird er die Festrede halten.

Wolf Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiographie. Propyläen, Berlin 2016, gebunden, 576 Seiten, 28 Euro