© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Notizen aus dem Literaturbetrieb
Große alte US-Literaten, Rudolf Borchardt und die „Zwiebel“ des Wagenbach-Verlages
Johannes Geißler

Wir schreiben den 13. Oktober, kurz nach 13 Uhr: Vor einer hölzernen Flügeltür in Stockholm erfährt die Weltöffentlichkeit, daß der Musiker Bob Dylan den Nobelpreis für Literatur 2016 erhält. Eine etwas überraschende Wahl (siehe den Beitrag auf Seite 14 dieser Ausgabe), selbst wenn man Dylan für einen großen Lyriker hält. Ärgerlich an dieser Entscheidung ist aber vor allem, für wen sich die Akademie nicht entschieden hat: Von den großen alten, noch lebenden Männern der US-Literatur wird wohl nie einer den Preis bekommen – es sei denn in einem noch biblischeren Alter. Denn das Komitee zeigte sich in den vergangenen Jahren nicht gerade als Hochburg des Amerikanismus. Der bislang letzte Literaturnobelpreis in die USA ging vor 23 Jahren an die SchriftstellerinToni Morrison. Man rechne selbst! Cormac McCarthy, heute 83. Don DeLillo, 79. Thomas Pynchon, 79. Philip Roth, 83. Methusalem lächelt müde.

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Ein Thema, das fast den Nobelpreis zu überlagern drohte: die wahre Identität von Elena Ferrante beziehungsweise deren Enthüllung. Die Italienerin, die immer wieder Gegenstand von Spekulationen hinsichtlich ihres „wahren“ Namens war, sorgte mit ihren Neapel-Romanen für Furore und hohe Verkaufszahlen. In Deutschland steht sie derzeit mit „Meine geniale Freundin“ (Suhrkamp 2016, 422 Seiten, 22 Euro) weit oben auf der Bestsellerliste. Der Journalist Claudio Gatti deckte nun anhand von Honorar-abrechnungen und Grundbucheinträgen auf, daß es sich bei Ferrante um Anita Raja, eine Übersetzerin, handeln müsse. Manche sahen daraufhin Persönlichkeitsverletzung und Sexismus seitens des Enthüllers am Werk. Andere meinten: Bücher seien nicht von ihren Urhebern zu trennen; wer publiziere, werde zur öffentlichen Person. Die Ferrante-Debatte läuft noch immer fleißig weiter. Bei Bob Dylan ist der bürgerliche Name schon lange klar: Robert Zimmerman.

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Es gibt auch Fast-Enthüllungen: Rudolf Borchardt, Sprachvirtuose, Dante-Übersetzer und konservativer Revolutionär, soll in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts einen erotischen, ja pornographischen Roman geschrieben haben, der sich in seinem Nachlaß befindet! Über tausend Seiten stark. Laut Aussage der Borchardt-Editoren ein Werk, das den Blick auf die deutsche Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts verändern und gar Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ überragen könnte. Der Roman darf aber nicht herauskommen, die Erben spielen nicht mit. Man greife statt dessen zu „Paulkes letzter Tag“, einem jüngst entdeckten Erzählfragment über einen Hochstapler (Sinn und Form 5/2016), in dem sich Borchardt als Meister der Verdichtung und des flüssigen Tons zeigt.

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Und sie wird ebenfalls nicht erscheinen: die „Zwiebel“ des Wagenbach-Verlags. Seit Gründung des Berliner Hauses 1964 gehörte die Broschüre zum Aushängeschild der Öffentlichkeitsarbeit. Über sie informierte man jedes Jahr Buchhandlungen und Leser über Neuerscheinungen und das Gesamtverzeichnis. Die Gründe für das Aussetzen sind sowohl finanzieller als auch politischer Natur und als ein Zeichen zu verstehen. Aufgrund eines Urteils des Bundesgerichtshofes (BGH) ist die Verwertungsgesellschaft Wort gezwungen, die gezahlten Anteile von 2012 bis 2015, die durch die Rechteverwertung eingenommen wurden, von den Verlagen zurückzufordern. Besonders hart trifft dies die Kleinen der Branche wie etwa Wagenbach. Entsprechend wandte sich Verlegerin Susanne Schüssler in einem Brief nicht nur an ihre Autoren und Übersetzer, sondern auch an Politiker: Die Entscheidung des BGH sei „nicht nur vollkommen blind für die Arbeit der Verlage, sie schwächt das Urheberrecht insgesamt und hat ökonomisch weitreichende Folgen“. Die Verlage würden „noch weniger ungewöhnliche, aufwendige und kostenträchtige Projekte wagen und finanzieren können“.