© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Die dunkle Seite der Macht blieb bis 1989
Vor sechzig Jahren erschütterte der Aufstand in Ungarn den Ostblock: Danach gründete der Warschauer Pakt endgültig auf Repression
Dag Krienen

Am 23. Oktober 1956 veranstalten die Studenten der Technischen Universität in Budapest eine Solidaritätskundgebung mit dem polnischen Volk. Ihnen schließen sich immer mehr Ungarn aus allen Schichten an. Die Menge versammelt sich an den Denkmälern des polnischen Generals Jósef Bem und des ungarischen Nationaldichters von1848/49, Sandór Petõfi. Bem hatte sowohl während des polnischen Aufstandes von 1830/31, als auch 1848/49 (zeitweise mit Petõfi als Adjutanten) gegen russische Truppen gekämpft, als diese dem Habsburgerreich bei der Niederschlagung der ungarischen Revolution halfen. Überall werden rasch Rufe nach Reformen in Ungarn laut. Vor allem wird jedoch der Abzug aller Sowjettruppen aus Ungarn gefordert. Ein Schauspieler erklettert das Denkmal Petõfis und deklamiert dort aus dessen Gedicht vom März 1848: 

Steh auf, Ungar, das Vaterland ruft! /

Heut’ ist es Zeit, heut’ oder nie. /

Wir schwören es beim 

Gott der Ungarn, /

daß wir uns in Zukunft nicht /

mehr in Fessel schlagen lassen. /

Das schwören wir!“

Unzählige Menschen wiederholen bei dieser und anderen Gelegenheiten den Schwur, „nie mehr Sklave zu sein“. Während andere auf dem Helden- (damals Stalin-)Platz die riesige Stature des sowjetischen Diktators umstürzen, demonstrieren am Abend 200.000 Ungarn vor dem Parlament. Dem rasch herbeigerufenen Reformkommunisten Imre Nagy gelingt es, die Menge vor dem Parlament mit vagen Versprechen zu beruhigen. 

Vor dem Rundfunkgebäude hingegen eskaliert nach einer mit Provokationen gespickten Radiorede des kommunistischen Parteichefs Erno Gero die Situation. Als die Demonstranten versuchen, das Gebäude zu besetzen, eröffnen auf Geros Befehl hin die Staatssicherheitstruppen ÁVH das Feuer. Die von ihm zur Hilfe gerufenen Kräfte der ungarischen „Volksarmee“ beteiligen sich hingegen nicht an den Kämpfen, sondern verteilen sogar Waffen an die Demonstranten, denen es gelingt, in das Gebäude einzudringen. Gero bittet nun die Sowjetführung um Hilfe. Am Morgen des 24. Oktober dringen sowjetische Panzertruppen in Budapest ein und gehen gegen die Aufständischen vor.

„Befreier“ demütigten Ungarn wie besiegte Feinde

Das war der Auftakt zu der blutigsten „Intervention“, welche die Sowjet-union zur Sicherung ihres Hegemonialgebietes in Osteuropa nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unternehmen sollte. Zwar forderte die Niederschlagung des Volksaufstandes weniger Opfer als anfänglich kolportiert. Doch gab es auf ungarischer Seite immerhin mehr als 3.000 Tote und 20.000 Verwundete. Die Sowjets hatten Verluste von 2.260 Mann, darunter 669 Tote und 51 Vermißte.

Daß es ausgerechnet die Ungarn waren, die sich gewaltsam gegen die Sowjets auflehnten, hatte viele Ursachen. Historische Erinnerungen an die Kämpfe gegen die Russen, die 1849 die schon siegreiche Revolution doch noch niederschlugen, spielten keine geringe Rolle. 1914 bis 1918 sowie 1941 bis 1945 waren die Russen Kriegsgegner Ungarns. Die Besetzung Ungarns durch deutsche Truppen im März 1944 nutzte Moskau zwar dazu, 1945 eine „Befreiung“ des Landes durch Stalins Armeen 1945 zu proklamieren. Doch hatte die Masse der ungarischen Truppen praktisch bis zum Schluß gegen diese gekämpft. Die vom Dezember 1944 bis Februar 1945 währende Belagerung von Budapest zählte zu den blutigsten Städtebelagerungen des Zweiten Weltkrieges. Praktisch behandelten und demütigten die „Befreier“ die Ungarn danach wie besiegte Feinde.

Die Sowjets ließen zunächst den Aufbau einer formal parlamentarischen Regierung zu, sorgten indes im Rahmen einer Volksfronttaktik scheibchenweise für die Etablierung eines stramm kommunistischen Regimes. Nicht nur die Verfassung von 1949 wurde der Sowjetverfassung von 1936 nachempfunden, der Parteichef Mátyás Rákosi kopierte auch Stalins Personenkult und dessen Terrorregime, mit der ÁVH als Tscheka und mit Schauprozessen gegen prominente Gegner sowie politischen Verfahren gegen mehr als eine Million Menschen, das heißt jeden zehnten Ungarn. Auch Stalins Politik der forcierten Entwicklung der Schwerindustrie und der Kollektivierung der Landwirtschaft wurde in dem kleinen, rohstoffarmen Agrarland gnadenlos kopiert und führte zu einer massenhaften Verelendung.

Der Tod Stalins im Frühjahr 1953 und die Abkehr der neuen sowjetischen Führung von der stalinistischen Politik blieb in Ungarn nicht ohne Folgen. Rákosi blieb zwar Parteichef, mußte aber aufgrund Moskauer „Empfehlungen“ den Reformkommunisten Imre Nagy als neuen Ministerpräsidenten ernennen. Dieser leitete in der Wirtschaftspolitik einen „neuen Kurs“ ein, der den Belangen der Konsumgüterindustrie und der Landwirtschaft weit mehr Gewicht beimaß und auf weitere Zwangskollektivierungen verzichtete. 

Nagy gewann so bei Reformkommunisten und Intellektuellen, aber auch in der breiten Bevölkerung einiges Ansehen. Moskau ging er hingegen zu weit. Der stalinistischen Fraktion um Rákosi gelang es so im April 1955, Nagy zu stürzen. Rákosis Triumph währte indes nicht lange. Als die „Geheimrede“ des sowjetischen Parteichefs Chruschtschow über die Verbrechen Stalins vom Februar 1956 in der ungarischen Partei für weitere Unruhe sorgte, organisierte Moskau im Juli seine Absetzung. Nachfolger wurde sein bisheriger Stellvertreter, der erwähnte Erno Gero. Eine Umkehr des politischen Kurses war damit nicht verbunden.

Die Widerstände in Polen elektrisierten die Ungarn

Anders war die Entwicklung in Polen. Dort hatten die wirtschaftlich desolate Entwicklung und die Verunsicherungen, durch die Entstalinisierung im Juli 1956 in Posen zu einem blutigen Arbeiteraufstand, aber auch zur Neuorientierung der kommunistischen Führung geführt. Sie wählte am 21. Oktober 1956 den 1949 aus der Parteiführung verdrängten und mehrere Jahre lang inhaftierten, reformorientierten Wladyslaw Gomulka entgegen dem Votum der Sowjets zum ersten Sekretär der Partei. Diesem gelang es, die angereisten hochrangigen Moskauer Politiker durch das Versprechen, Polen im Ostblock zu halten, von einer militärischen Intervention abzuhalten und zur Duldung seiner, im übrigen recht begrenzten, Reformen zu bewegen.

Die Ereignisse in Polen elektrisierten die Ungarn. Die sich am 23. Oktober in Budapest versammelnden Demonstranten strebten zumeist keinen Systemwechsel an, sondern „nur“ eine umfassende Reform hin zu einem „ungarischen“ Sozialismus. Vor allem aber wollten sie alle die volle nationale Unabhängigkeit und den Abzug aller sowjetischen Truppen. Erst die kurzsichtigen Reaktionen der stalinistischen Hardliner führten dazu, daß in Budapest und wenigen anderen Orten die Situation eskalierte. Im übrigen Land räumten die bisherigen Machthaber kampflos das Feld und gaben den sowjetischen Truppen keinen Anlaß zum Eingreifen. In der Hauptstadt hingegen konnten bewaffnete Revolutionäre, zu denen auch viele Soldaten der ungarischen Armee überliefen, Widerstandszentren bilden und sich gegen die sowjetischen Panzer und die ÁVH behaupten. 

Für kurze Zeit sah es so aus, als ob die Revolution Erfolg haben würde. Mit sowjetischem Einverständnis wurde Imre Nagy erneut zum Regierungschef und der unter Rákosi zeitweilig eingekerkerte János Kádár zum Parteichef ernannt. Nagy erkannte, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung, die Legitimität der neuen ungarischen Revolution an, übernahm immer mehr Forderungen der Revolutionäre, und erklärte schließlich sogar den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt und, nach dem Vorbild Österreichs von 1955, seine Neutralität. Auch gelang es ihm, die Sowjets zur Einstellung der Kämpfe und sogar zum Abzug aus Budapest zu bewegen.

Alle Hoffnungen erwiesen sich aber am Ende als trügerisch. Die sowjetische Führung unter Nikita Chruschtschow zog zwar für kurze Zeit ein Anerkennen der neuen Verhältnisse in Erwägung, entschloß sich zur Sicherung ihres Imperiums Ende Oktober dann doch zur bewaffneten Intervention. Die gleichzeitig stattfindende Suezkrise, welche die USA und Großbritannien/Frankreich entzweite (Seite 19), ließ zudem ernsthafte westliche Gegenmaßnahmen nicht befürchten. 

Am 4. November gingen die umgruppierten sowjetischen Truppen in Ungarn, nun einem generalstabsmäßig ausgearbeiteten Plan folgend und verstärkt durch über die Karpatho-Ukraine und Rumänien einmarschierende Divisionen, wieder zum Angriff über. Die Ungarn leisteten erneut hartnäckig Widerstand. Da ihre neue Militärführung aber zuvor in eine sowjetische Falle getappt und gefangengenommen worden war, blieb dieser ohne System und erlosch nach einigen Tagen, meist aus Munitionsmangel. In Budapest endete der militärische Kampf am 11. November, im gesamten Land vier Tage später. 

Zugleich bildete der nach Moskau gereiste Parteichef János Kádár aus zuverlässigen sowjethörigen Kommunisten eine „Ungarischen Revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung“. Diese übernahm nach der Niederschlagung der Revolution die Macht im Lande. Auch wenn das bis 1988 bestehende Kádár-Regime später aufgrund seines konsum-orientierten „Gulaschkommunismus“ eine gewisse Popularität im Ostblock erlangen sollte, waren seine ersten Jahre von einer harten Repressionspolitik geprägt. Rund 26.000 Revolutionäre kamen ins Gefängnis, rund 13.000 wurden ohne Verfahren interniert. Rund 350 Menschen – überwiegend junge Arbeiter zwischen 20 und 30 – wurden hingerichtet. Auch der von den Sowjets zunächst nach Rumänien verbrachte Imre Nagy gehörte zu den Hingerichteten. Mehr als 200.000 Ungarn flohen in den Westen. Erst ab Anfang der sechziger Jahre mäßigte Kádár auf sowjetischen Druck seine Verfolgungspolitik. Im März 1963 erließ er schließlich eine Generalamnestie. 

Westen erkannte sowjetisch dominierten Ostblock an

Die gewaltsame Niederschlagung der ungarischen Revolution schadete anfangs dem Ansehen der Sowjetunion, der neuen Führung Ungarns und auch den kommunistischen Parteien in Westeuropa, die erhebliche Mitgliederverluste zu verzeichnen hatten, enorm. Die UdSSR galt nun auch bei vielen Linken als imperialistische Macht. Der Westen, der die ungarischen Revolutionäre zwar durch schöne Worte angefeuert, aber keinerlei wirkliche Hilfe geleistet hatte, erkannte so das sowjetische Imperium in Osteuropa de facto an. Die Ereignisse von 1956 gerieten deshalb dort bald in den Hintergrund. 

Im Ostblock blieb das brutale sowjetische Vorgehen in Erinnerung und trug dazu bei, daß gegen den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 kein gewaltsamer Widerstand geleistet wurde und 1981 in Polen der Errichtung einer Diktatur des eigenen Militärs der Vorzug vor einer militärischen Intervention des großen Bruders gegeben wurde. In Ungarn befeuerte die Erinnerung an 1956 maßgeblich den Umschwung von 1989. Zur Umbettung und Neubestattung von Imre Nagy und anderer hingerichteter prominenter Revolutionäre versammelten sich in Budapest am 16. Juni 1989 mehr als 200.000 Menschen. Sie alle wollten die Ziele der Revolution von 1956 nun friedlich realisiert sehen. Ein junger Mann namens Viktor Orbán trat dabei dadurch hervor, daß er sofortige Verhandlungen über den Abzug der sowjetischen Truppen forderte.