© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Knapp daneben
Kraftstrotzende Wissensgesellschaft
Karl Heinzen

Deutschland ist heute, dies hat unterdessen nahezu Verfassungsrang, ein Einwanderungsland. Es gibt aber nicht nur viele Menschen, die gern zu uns kommen. Auch die Zahl jener, die diesem Land erleichtert den Rücken kehren, ist groß. 140.000 Deutsche zieht es Jahr für Jahr dauerhaft ins Ausland. Die meisten von ihnen verfügen über sehr hohe Qualifikationen. 58 Prozent der Emigranten sind in der Wissenschaft tätig, 14 Prozent arbeiten in technischen Berufen, zwölf Prozent üben Managementfunktionen aus. Der Anteil der Frauen an den Auswanderern ist mit 57 Prozent überdurchschnittlich hoch.

Sollte man angesichts dieser Zahlen von einem „Brain-Drain“ sprechen? Dies wäre unangebracht, gäbe man damit doch etwas als eine Katastrophe aus, was sich bei näherem Hinsehen als das genaue Gegenteil entpuppt. Die Wissensgesellschaft und Wirtschaftsnation Deutschland strotzt so sehr vor Kraft, daß sie durch das Ventil der Auswanderung Dampf ablassen muß, um nicht zu überhitzen. Unser überragendes Bildungswesen setzt Talente in so großer Zahl frei, daß die heimische Wirtschaft sie gar nicht alle absorbieren kann.

Was wir brauchen, sind Menschen mit Technik-Verstand, die als Pfleger einen Rollator aufklappen können.

Dies mag irritieren, weil so viel vom Fachkräftemangel die Rede ist. Hier sollte daher der Bedarf konkreter formuliert werden. Gesucht sind nicht innovative Naturwissenschaftler und Ingenieure. Davon haben wir mehr als genug. Was wir brauchen, sind Menschen mit technischem Sachverstand, die als Pfleger einen Rollator aufklappen, als Pizzalieferant ein Fahrzeug bedienen und als Reinigungskraft die Handtuchrolle in einer öffentlichen Toilette auswechseln können.

Auch der Exodus gebildeter Frauen muß nicht beunruhigen. Sie sind halt etwas ungeduldig, weil die Männer ihre letzten Bastionen in Spitzenjobs nicht räumen. Manche möchten vielleicht auch nicht akzeptieren, daß Frauenrechte mehr und mehr eingeschränkt werden müssen, wenn wir ein weltoffenes Land bleiben wollen. Im Herzen bleiben sie dennoch unserer Gesellschaft verbunden, verdanken sie ihr doch jene Ausbildung, mit der sie nun im Ausland Karriere machen und ihr Lebensglück finden können.