© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Großkritiker im Schonwaschgang
Herold modernster Bühnenkunst und Opponent jeder Obrigkeit: Deborah Vietor-Engländers erste umfassende Biographie Alfred Kerrs gerät zur Verklärung
Wolfgang Müller

Wäre es nur nach dem Bankkonto gegangen, lagen Thomas Mann, frisch saturiert dank der „Buddenbrooks“-Honorare, und Al-fred Kerr, besserverdienender Berliner Großkritiker, beim Hahnenkampf um die Millionärstochter Katia Pringsheim Kopf an Kopf. Da aber das Herz entschied, war Kerr bereits früh aus dem Rennen, ohne es zu merken. Eine Demütigung, für die er sich mit Spottversen und gehässigen Rezensionen rächte, die wiederum eine Intimfeindschaft dauerhaft fundierten. Als man sich im April 1933 im Exil ein letztes Mal begegnete, beklagte Mann in seinem Tagebuch, daß die deutsche „Revolte gegen das Jüdische gewissermaßen“ sein Verständnis hätte, wenn nur die NS-Regierung nicht so dumm gewesen wäre, „meinen Typus“ zusammen mit  Juden wie Kerr und Tucholsky in einen Topf zu werfen und „auszutreiben“.

Zeitlebens war Kerr einer, der erbarmungslos austeilte, ein guter Hasser, der – besonders nachdem er sich ab Mitte der zwanziger Jahre auch als politischer Publizist gegen die nationale Rechte wandte – deswegen selbst zur Haßfigur wurde. Der Dramatiker Hermann Sudermann, sein erstes prominentes Opfer, prangerte 1902 die beispiellose „Verrohung“ einer Theaterkritik an, die auf Erniedrigung und Entwürdigung des Autors setzte und für die Kerr das Urheberrecht besaß. 

Nur wenige Kollegen und noch weniger Schriftsteller, darunter an erster Stelle Gerhart Hauptmann, und selbst der urteilte nicht immer freundlich, schätzten daher Kerr. Auch das erklärt wohl die mangelnde Unterstützung für den im Exil Notleidenden, während Thomas Mann von einer Villa in die nächste umzog. Es dürfte auch erklären, daß zum Werk Kerrs, der 1948 nach einem Schlaganfall den Suizid wählte, weder in der Bundesrepublik noch in der DDR eine nennenswerte Rezeptionsgeschichte zu verzeichnen ist.

Mit seiner nächtlichen Flucht aus Berlin, eine Woche nach der NS-Machtergreifung, begann Kerrs Reise in die Vergessenheit. Ein selten jäher Absturz vom Gipfel des Ruhms, denn 1927, zum 60. Geburtstag des Herolds jeweils „modernster“ Bühnenkunst zwischen Naturalismus und Expressionismus, besang Kurt Pinthus den Jubilar als den am meisten gepriesenen, am meisten befeindeten, gleichwohl populärsten und repräsentativsten Kritiker Berlins, Deutschlands, „wahrscheinlich Europas“. 

Sein Wiener Antipode Karl Kraus sah das naturgemäß anders. Auf dem Kritiker-Olymp war nur für einen Platz, nämlich für ihn. Aber nicht aus persönlicher Geltungssucht, sondern weil Kerrs unheilvoller Einfluß auf die „Welt im Drama“ für ihn dazu beitrug, den moralischen Auftrag geringzuachten, begann Kraus schon vor 1914 mit manischem Furor einen mit allen Mitteln ausgetragenen, zwanzig Jahre währenden Federkrieg, in dem sich beide Virtuosen der Polemik nichts schenkten. Zwei jüdische Intellektuelle, die sich dabei aus jenem randvollen Reservoir der Injurien bedienten, aus dem im Rückblick von heute scheinbar nur Judenfeinde schöpften. „Itzig Witzig“ nannte Kraus den als Alfred Kempner geborenen Sohn eines Breslauer Weinhändlers. Kerr konterte mit: „Grundcharakter: Talmi plus Talmud.“

Kerrs Biographin, Deborah Vietor-Engländer, ergreift in diesem von ihr ausführlich geschilderten Konflikt zwischen dem Wiener, angeblich von „jüdischem Selbsthaß gerüttelten Aufklärer und Hüter der Moral“ und dessen sicher in seinem Judentum wurzelnden Berliner Gegner fast automatisch Partei gegen Kraus. Womit die größte Schwäche ihrer mehr Kerrs Lebensweg als sein Werk akribisch – „gouvernantenhaft“, wie Erhard Schütz (Literarische Welt vom 8. Oktober) unhöflicher formuliert – recherchierenden Biographie, der ersten umfassenden überhaupt, benannt ist: verklärende Nacherzählung verdrängt Analyse. 

Die Darstellung der Dauerfehde zwischen Kerr und Kraus offenbart mangelnde Distanz zu ihrem Helden, dem sie groteskerweise säkularen Rang zubilligt, der zweifelsfrei allein dem Wiener Stammvater aller radikalen Medienkritik als Gesellschaftskritik zukommt. Vietor-Engländer ignoriert zudem die in diesem Konflikt zutage tretende Zerklüftung der jüdischen Gesellschaft in Deutschland und Österreich und verkleinert diesen stattdessen zur Privatfehde. Abstand läßt sie auch zu Kerrs liberaler Weltanschauung vermissen, der das großbürgerliche Judentum mehrheitlich anhing und mit der sich die Biographin restlos identifiziert. 

Ob dieser Liberalismus, den Kerr früh ebenso als Theaterkritiker, als Reiseschriftsteller, als publizistischer Opponent des wilhelminischen „Obrigkeitsstaates“ verfocht, als integraler Kitt taugte, um eine moderne Industriegesellschaft zusammenzuhalten, erschien dem Grunewalder Villenbesitzer, der in den 1920ern, als journalistisches Zugpferd der Mosse-Presse, bis zu 40.000 Mark jährlich einnahm (Facharbeiter verdienten 3.000), erst zweifelhaft, als es zu spät war. Der Liberalismus, so lautete die aus dem Dialog mit den kommunistischen Theatermachern Erwin Piscator und Bertolt Brecht gewonnene, von der Weltwirtschaftskrise 1929/30 vertiefte Einsicht, habe die soziale Frage vernachlässigt und die das Gemeinwesen zersetzende Profitgier, die „Wirtschaftsverrottung“ gefördert. Was, wie Kerr dann folgerte, den rasanten Aufstieg der NSDAP zur Folge hatte, die ihn 1933 ins englische Exil zwang. 

Als er 1896 erstmals auf der Insel weilte, irritierten nicht einmal intensive Gespräche auf dem sozialistischen Weltkongreß in London seine liberalen Überzeugungen. In England, wollte er treuherzig die Leser der Breslauer Zeitung glauben machen, stehe die Polizei im „Dienste der Allgemeinheit“ – nicht etwa in dem der „Plutokratie“ (Karl Marx) –, im deutschen Kaiserreich hingegen „im Dienste der Regierung“, also der preußischen „Junkerkaste“. 

Vietor-Engländer vermag solche realitätsblinden Auffassungen nur reflexionslos zu paraphrasieren, genauso wie sie das illusionäre Fazit einer 1925 unternommenen dritten USA-Reise zustimmend zitiert, das von ihm als Vorbild für Deutschland und Europa bewunderte „unsoziale, höchstkapitalistische Yankeevolk“ werde sich vielleicht eines fernen Tages zu sozialer Gerechtigkeit bekehren. Politische, aus dem Geist des Liberalismus geborene Fehleinschätzungen solchen Kalibers sowie daraus konsequent resultierende ästhetische Fehlurteile durchziehen in dicken Adern Kerrs verzweigtes Œuvre. Dieses, seit 2014 in acht Bänden vorliegend, ließe sich gerade in unseren krisenreichen Zeiten, in denen immer öfter das Menetekel von „Weimar“ beschworen wird, durchaus als lehrreicher Epochenspiegel studieren – wenn man den Großkritiker denn kritischer liest als seine Biographin. 

Deborah Vietor-Engländer: Alfred Kerr. Die Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016, gebunden, 719 Seiten, Abbildungen, 29,95 Euro