© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/16 / 28. Oktober 2016

Unglücklich in einem System aus Lügen
Distanzierter Einzelgänger: Zum 90. Geburtstag des Schriftstellers Günter de Bruyn
Thorsten Hinz

Von Gesellschaftsutopien oder einem Erziehungsauftrag der Literatur hat der Schriftsteller Günter de Bruyn nie etwas gehalten. Für ihn waren der naiv-listige Überlebenskünstler Schweijk und Don Quixote, der Kämpfer gegen Windmühlen, erklärtermaßen die zeitgemäßeren Figuren als Goethes Wilhelm Meister, der nach Vervollkommnung seiner Persönlichkeit und der Gesellschaft strebt. Ein Grundmotiv der Romane de Bruyns ist die erstaunliche Fähigkeiten der Menschen, ein System aus sich gegenseitig bestätigenden Lügen zu errichten, es sich darin bequem zu machen und unglücklich zu sein. De Bruyn Geschichten spielen vorzugsweise im privaten und beruflichen Bereich, doch die Aussage zielt auf das Große und Ganze.

Im Roman „Märkische Forschungen“, seinem wohl populärsten Prosa-Werk aus dem Jahr 1978, soll ein vergessener Dichter anläßlich seines 165. Geburtstags in der DDR mit großem Aufwand populär gemacht werden. Ein Hobbyhistoriker hat aber herausgefunden, daß dieser mit einem reaktionären preußischen Politiker identisch ist, sich also schlecht eignet, um Regional- und gleichzeitig fortschrittliches Staatsbewußtsein zu stiften. Ein Bekanntwerden der Tatsache würde die Arbeit des mit der Materie betrauten Geschichtsprofessors in Makulatur verwandeln, weshalb dieser Mittel und Wege findet, sie zu unterdrücken. Dem Geschichtsdetektiv nützt es auch nichts, daß er sein Manuskript an einen interessierten Historiker im Westen schickt, denn dem sind die Erkenntnisse – wenn auch aus anderen Gründen – ebenfalls politisch nicht genehm. Ähnlichkeiten mit dem heutigen Wissenschaftsbetrieb sind natürlich rein zufällig.

Die Wiedervereinigung markierte für den 1926 in Berlin geborenen de Bruyn keinen so großen Bruch wie für andere DDR-Autoren seiner Generation. Er war kein vordergründig oppositioneller Autor, obwohl er 1976 gegen die Biermann-Ausbürgerung protestierte und ein Jahr zuvor in seiner Jean-Paul-Biographie die Zensurpraxis kritisiert hatte. 1989 lehnte er die Annahme des Nationalpreises der DDR ab. Seine Haltung war die des distanzierten Einzelgängers, dessen persönliche Autonomie grundsätzlicher ist als politischer Widerstand. „Mein Leben spielte sich zwar in der DDR ab, aber es blieb doch mein Leben“, heißt es in seiner sehr lesenswerten, gänzlich unprätentiösen Autobiographie, die in zwei Bänden 1992 und 1996 herauskam.

Danach hat der Fontane-Verehrer sich ganz dem brandenburgisch-preußischen Sujet zugewandt und zahlreiche regional- und kulturgeschichtliche Bücher veröffentlicht, darunter „Preußens Luise. Vom Entstehen und Vergehen einer Legende“ und den mit Fotos von Barbara Klemm ausgestatteten Band „Mein Brandenburg“. 2002 erhielt er den Deutschen Nationalpreis. Am 1. November begeht Günter de Bruyn, der in einem kleinen Dorf östlich von Berlin lebt, seinen 90. Geburtstag.