© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/16 / 04. November 2016

Frag doch mal die Maus
„Gut leben in Deutschland“: Die Bundesregierung hat ihren Bericht zum Bürgerdialog vorgelegt / Die Ergebnisse sind wenig überraschend
Christian Schreiber

Am Ende steht ein Ergebnis: 3,5 Millionen Euro hat der ganze Spaß gekostet. In der vergangenen Woche hat die Bundesregierung den Abschlußbericht „Gut leben in Deutschland“ gebilligt. Im April 2015 hatte man eine Veranstaltungsserie gestartet, um mit den Bürgern in den Dialog zu treten. Der Wunsch, „dem Volk aufs Maul zu schauen“, wurde sogar in einem offiziellen Kabinettsbeschluß festgeschrieben. 200 Veranstaltungen gab es im Laufe des vergangenen Jahres unter dem Titel „Bürgerdialog“. Dennoch geriet die publikumswirksam inszenierte Kampagne alsbald in Vergessenheit. Denn den Bürgergesprächen folgte der Aufruf, sich online oder per Postkarte bei der Regierung zu melden. 

„Ein sehr differenziertes     Meinungsbild“

16.000 Menschen haben sich insgesamt daran beteiligt, das ist statistisch gesehen eher im Promillebereich zu verorten. Dennoch glauben Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihre Ministerriege, daß sie nun besser einschätzen können, was den Bürger so umtreibt. Am häufigsten wurde die Bewahrung des Friedens im eigenen Land, aber auch der Einsatz für Frieden in der Welt genannt, heißt es in dem Bericht. Dies ist nun wahrlich keine bahnbrechend neue Erkenntnis. 

Überhaupt stellt sich die Frage, wie wertvoll die ausgewerteten Daten sind. Denn an den Diskussionsrunden und Online-Befragungen haben nur engagierte Bürger teilgenommen; diejenigen, die von der Politik gern als „abgehängt“ bezeichnet werden, sind wohl kaum zu einer Veranstaltung mit Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel gegangen. Beim Blick auf die Ergebnisse zeigt sich, daß viele Bürger über „weiche Themen“ diskutieren wollten. Die Auswirkungen der Energiewende seien ein großes Thema, teilte die Regierung mit. Der Bau von Windkraftanlagen rufe erbitterten Widerstand einzelner Bevölkerungsgruppen hervor. Auch die Gesundheitsversorgung sei ein Thema, welches die Menschen berühre. Grundsätzlich seien die Deutschen mit der Versorgung zufrieden, allerdings gab es Kritik an der „Zweiklassengesellschaft“. Die Trennung von gesetzlicher und privater Krankenkasse rufe Unmut unter der Bevölkerung hervor, vor allem die bevorzugte Behandlung von Privatpatienten in der Arztpraxis sei ein Ärgernis. Ob die wohl mehrheitlich privatversicherten Politiker für die Erkenntnis nun unbedingt einen Bürgerdialog gebraucht haben, bleibt allerdings unbeantwortet. 

Daß die Menschen „von ihrem eigenen Einkommen leben können und sich „finanziell gut abgesichert“ fühlen möchten, sind nun ebenfalls keine Wünsche, die besonders außergewöhnlich sind. Fast schon erstaunt listet die Regierung weiter auf, daß ihre Wähler „mehr Wohnraum zu bezahlbaren Preisen“ möchten, sowie ein „Gefühl von Sicherheit“ spüren wollen. Daß die Aufklärungsquote bei Wohnungseinbrüchen gesunken ist, irritiere die Deutschen. 

Ein entscheidender Punkt minimiert die Aussagekraft außerdem: Die Bürgerdialoge fanden zwischen April und Juli 2015 statt, also vor der heißen Phase der Asylkrise, die in dem Bericht daher kaum eine Rolle spielt. Insgesamt zeige sich, so heißt es im über 200 Seiten umfassenden Abschlußbericht, ein „sehr differenziertes Meinungsbild“ beim Thema Migration: „Von Gastfreundschaft und dem Wunsch nach Integration über Skepsis, wie gut sich Integrationsprozesse beeinflussen lassen, bis hin zur Sorge über die Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft.“

Besorgt habe man dagegen festgestellt, daß die Haßsprache im Internet zugenommen hat. Die Regierung nutzte diese Gelegenheit wenig überraschend, um im Bericht wenigstens einen kleinen Seitenhieb „gegen Rechts“ unterzubringen und praktischerweise gleich eine Statistik mitzuliefern. Der Veröffentlichung zufolge wurden 2015 insgesamt 10.373 Fälle von Haßkriminalität registriert, also Straftaten, die sich etwa gegen politische Einstellungen, Nationalitäten, Hautfarben oder Religionen richten. Das seien 77 Prozent mehr als 2014 und ein Negativrekord seit Beginn der Statistik im Jahr 2001.

 Sogar die Frankfurter Allgemeine Zeitung kam nicht umhin festzustellen, daß die Regierenden offenbar ein Wahrnehmungsproblem mit den Alltagssorgen der Bürger hätten. Die Bundeskanzlerin könne schließlich nicht „einfach so“ bei einem Gebrauchtwagenhändler ein Auto kaufen und sich über die Sorgen und Nöte der Branche unterhalten. Auch Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer sei nicht in der Lage, sich im Urlaub auf Rügen einfach mal so „an der Wursttheke“ einzudecken. Denn er werde erkannt und sei daher nicht unvoreingenommen. 

Die Resonanz auf den Bürgerdialog hielt sich übrigens in Grenzen. Das mag auch der Auftraggeberin aufgefallen sein, und so verzichtete Merkel samt Kabinett auf eine gesonderte Vorstellung der Ergebnisse. Dies besorgte ihr Sprecher Steffen Seibert en passant in der Bundespressekonferenz.

 Die Grünen-Politikerin Renate Künast stellte die nicht ganz unberechtigte Frage, was das Ganze denn solle: „Ich würde als erstes sagen, daß die Bundesregierung uns jetzt auch mal vorlegen muß, was sie aus diesen Forderungen und Erkenntnissen denn für Schlußfolgerungen zieht.“ Das wäre in der Tat ein guter Anfang.