© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/16 / 04. November 2016

Auf- und Abstieg der „Berliner Zeitung“
Das nach der Wende so ambitionierte Blatt wird radikal umgebaut
Ronald Berthold

Einst galt die Berliner Zeitung als spannendstes Zeitungsprojekt Deutschlands. Eine „deutsche Washington Post“ wollte Chefredakteur Erich Böhme Anfang der 1990er Jahre aus der einstigen SED-Zeitung machen. Heute ist das Blatt des vorigen Spiegel-Chefs ein Sanierungsfall. Um es überhaupt noch zu retten, müssen 50 Mitarbeiter gehen, und die Redaktion wird mit der der Boulevardzeitung Berliner Kurier zusammengelegt.

Wie konnte es so weit kommen? Seit 1998 hat das Printprodukt, das so gern in einer Liga gegen Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine angetreten wäre, mit einer drastischen Leserflucht zu kämpfen. Die Auflage sank von 216.603 auf aktuell 96.692. Das entspricht einem Minus von 55,4 Prozent. Die absolute Zahl ist sogar noch geschönt, da die Berliner Zeitung 15.765 sogenannte „Bordexemplare“ und „sonstige Verkäufe“ ausweist, die nichts mit Abonnement oder Kioskverkauf zu tun haben. Vor der Wende lag die Auflage bei rund 345.000.

Nicht viel anders erging es dem Schwesterblatt Berliner Kurier, das zu DDR-Zeiten „BZ am Abend“ hieß und damals etwa 200.000mal verkauft wurde. Bei den Boulevardkollegen reduzierte sich die Auflage ab 1998 von 192.922 auf 82.143 (minus 57,2 Prozent), wobei auch hier aktuell noch 9.643 „sonstige Verkäufe“ die Zahl aufhübschen.

Politisch korrekt am Leser vorbeigeschrieben

Aus den beiden dem Tode geweihten Patienten soll nun ein Gesunder werden. Das hofft die DuMont Mediengruppe, die die Blätter 2009 übernahm. Damals sollten gemeinsam mit der ebenfalls schwer unter Druck geratenen Frankfurter Rundschau, deren Auflage schon gar nicht mehr ausgewiesen wird, dem Kölner Stadt-Anzeiger, der Hamburger Morgenpost und anderen Titeln des Verlages Synergien geschaffen werden. So beliefert eine Hauptstadtredaktion die Blätter mit Berichten über die Bundespolitik. Trotzdem schreibt die Berliner Zeitung seit diesen sieben Jahren rote Zahlen.

Ein Insider meint, die Redaktion sei an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig. Mit politisch korrekter Linie, dem Bejubeln einer multikulturellen Gesellschaft und schließlich der „Willkommenskultur“ hätten die Kollegen „die Abonnentenkartei leergeschrieben“. Die Zeitung verortete sich zwar immer schon links der Mitte und konnte sich auf eine Stammleserschaft stützen, die teilweise vor der Wende zum SED-Milieu gehörte. Aber das „radikale Gutmenschentum“ sei vielen dieser „im Grunde strukturkonservativen Leser“ zu weit gegangen.

Statt aufsehenerregender Enthüllungen wie in den 1990ern hatte die Berliner Zeitung in den vergangenen Jahren vor allem Meinungsmache zu bieten und traf damit offenbar immer seltener den Ton ihrer Kunden. Auch der Kurier habe mit seiner „massiv islamfreundlichen Berichterstattung an den Interessen der einfachen Leute, die nun einmal eine Boulevardzeitung kaufen“, vorbeigeschrieben. Die „Macht der Leser“, die viele Redakteure geringschätzten, könne „grausam sein“. Deren Kaufverweigerung führe nun für einen nicht unerheblichen Teil in die Arbeitslosigkeit. 

Denn jetzt sind Maßnahmen nötig, die alles bisher Dagewesene übertreffen: „Ein solches Szenario gab es nicht einmal, als unser Berliner Verlag noch zu den ‘Heuschrecken‘-Investoren von Mecom gehörte“, kommentierte die Betriebsratsvorsitzende Renate Gensch. 

Die Pläne sehen vor, daß der Berliner Verlag, in dem beide Zeitungen seit Jahrzehnten erscheinen, praktisch dichtgemacht wird. DuMont hat stattdessen eine Gesellschaft mit dem Namen „Berliner Newsroom GmbH“ gegründet, die am 1. November ihre Arbeit aufgenommen hat. Jeder Redakteur von Berliner Zeitung und Berliner Kurier muß sich dort neu bewerben, wenn er weiterarbeiten möchte. Das Problem: Für 160 Journalisten gibt es nur noch 110 freie Stellen; mindestens ein Drittel wird nicht übernommen werden.

Einen neuen gleichwertigen Arbeitsplatz zu finden, ist bei der Tageszeitungskrise nahezu ausgeschlossen. Alle anderen Blätter bauen ebenfalls Personal ab. Die früher zu Springer und heute zu Funke gehörende Berliner Morgenpost zum Beispiel verlor in den vergangenen 18 Jahren 63 Prozent ihrer Abo- und Kioskauflage von 170.000 auf jetzt 63.500. Das einst erzkonservative Abonnementsblatt hat einen noch stärkeren Absturz erlebt, sich ebenfalls zu einer politisch korrekten Zeitung entwickelt und unterscheidet sich in seiner Tendenz kaum noch von der Berliner Zeitung. Dort haben in der neuen Newsroom GmbH lediglich die 30 Kollegen aus der bisherigen Hauptstadt- und Online-Redaktion ihren Arbeitsplatz sicher. 

Daß die Qualität der Zeitung durch diesen radikalen Personalabbau steigt, bleibt eher zu bezweifeln. Sie soll lokaler werden: von der „deutschen Washington Post“ zum Provinzblatt für die Berliner Ostbezirke, wo die Zeitung nach wie vor ihre meisten Leser hat. Auch die Gehälter werden sinken. DuMont möchte die Vergütungen „an den geltenden Branchentarifvertrag anlehnen“. Das heißt im Klartext: Mit der Tarifbindung und außertariflichen Zulagen dürfte Schluß sein. Für den Betriebsrat mehr ein „Kahlschlag“ als ein „Neuanfang“.

„Deutsche Washington Post“ wird zum Lokalblatt 

Bevor DuMont die Tageszeitungen übernahm, hatten nach der Wende in einer beispiellosen Anzahl die Besitzer gewechselt. Zunächst gehörte das Blatt der PDS (heute: Die Linke). Die Verlagshäuser Maxwell sowie Gruner + Jahr übernahmen 1990, bevor die Briten zwei Jahre später ausstiegen. 2002 verkaufte das verbliebene Hamburger Medienhaus den Berliner Verlag an die Holtzbrinck-Gruppe, die Die Zeit und den Tagesspiegel verlegt. Dies wurde der Berliner Zeitung zum Verhängnis. Denn das Bundeskartellamt untersagte das Geschäft, weil Holtz­brinck mit dann zwei Berliner Abonnementzeitungen eine zu marktbeherrschende Stellung erhalten hätte. Nun trat 2005 die britische Mecom Group auf den Plan, die der Betriebsrat bis heute als „Heuschrecke“ bezeichnet. Erstmals war eine deutsche Zeitung damit in die Hände eines ausländischen Finanzinvestors gelangt. Für 152 Millionen Euro verkaufte dieser seine Anteile schließlich an DuMont.

An die Blütezeit unter Erich Böhme konnte jedoch nie wieder angeknüpft werden. Dieser konnte sich eine hochbezahlte Mannschaft zusammenkaufen. Denn Gruner + Jahr wollte das Blatt mit viel Geld und aller Macht zum deutschen Leitmedium und zur Hauptstadtzeitung machen. Viele Spitzenjournalisten wechselten im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts an die Karl-Liebknecht-Straße in Berlin-Mitte. Von ihnen ist kaum einer geblieben. 

Auch der traditionsreiche Standort mit dem sich drehenden Emblem des Berliner Verlages gehört bald der Vergangenheit an. Die „Newsroom GmbH“ zieht in die Alte Jacobstraße. Was aus der DDR-Hochhausimmobilie unmittelbar am Alexanderplatz wird, ist genauso ungewiß wie die Zukunft des einstigen Renommierblattes.