© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/16 / 04. November 2016

China, Amerika und die Thukydides-Falle
Kampf um die Vormacht
Peter Kuntze

Im November 2012 gab Präsident Barack Obama eine grundlegende Umorientierung der amerikanischen Außenpolitik bekannt. Vor dem australischen Parlament in Canberra verkündete er: „Ich habe die wohlüberlegte und strategische Entscheidung getroffen, daß die USA als pazifische Macht eine größere und langfristige Rolle bei der Gestaltung dieser Region und ihrer Zukunft spielen werden.“ Mit diesem „pivot to Asia“, dem neuen „Dreh- und Angelpunkt“ seiner Politik, zielte Obama auf die Herausforderung durch das sich zu einer globalen Macht entwickelnde China, das den USA über kurz oder lang die Führungsrolle streitig machen könnte.

Aufgrund der geopolitischen Konkurrenz sind sich beide Staaten der „Thukydides-Falle“ bewußt, der zufolge eine aufsteigende Macht nahezu unvermeidlich in Konflikt mit der etablierten Vormacht gerät, wie der griechische Historiker Thukydides vor 2.400 Jahren konstatierte. Für ihn war der 27 Jahre währende Peloponnesische Krieg zwischen Sparta und dem aufstrebenden Athen (431–404 v. Chr.) ein Muster für das sich ewig wiederholende Spiel der großen Antinomien: Aus dem Vergangenen, so schreibt er in der Einleitung zu seinem großen Werk, könne man klar erkennen, „daß auch das Zukünftige wegen der menschlichen Natur gleich oder ähnlich geschehen wird“.

Nach Überwindung der von Mao Tse-tung verursachten Katastrophen wie dem „Großen Sprung nach vorn“ (1958 bis 1961) und der „Kulturrevolution“ (1966 bis 1976) ist die 1949 gegründete Volksrepublik China jetzt im Begriff, machtpolitisch an die Glanzzeit des einstigen Reichs der Mitte anzuknüpfen und eine entscheidende Rolle auf der Weltbühne zu spielen. Das Erfolgsrezept ist die Rückbesinnung auf die vom Konfuzianismus abgeleitete ostasiatische Herrschaftstrias Tradition – Disziplin – Hierarchie, verkörpert von Staats- und Parteichef Xi Jinping, der nach Mao Tse-tung und Deng Xiaoping bislang stärksten Führungspersönlichkeit.

Wer auch immer Obama nachfolgt, wird sich mit Xi arrangieren müssen. Seine im November 2012 vom KP-Zentralkomitee auf ein Jahrzehnt festgelegte Amtszeit läuft Ende 2022 ab. Ob er es dann im Weißen Haus noch einmal mit einem vertrauten Gesicht zu tun haben wird, weiß niemand.

Hillary Clinton jedenfalls kennt die Thukydides-Falle. Schon als Außenministerin im Kabinett Obama sagte sie mit Blick auf Chinas Aufstieg: „Zwei Nationen versuchen etwas, das es in der Geschichte niemals vorher gegeben hat – nämlich eine gemeinsame Antwort auf die Frage zu geben, was passiert, wenn eine etablierte Macht auf eine aufstrebende stößt.“

Um die Thukydides-Falle zu vermeiden, warnte damals, 2012, Generalstabschef Martin E. Dempsey vor den Folgen einer Eindämmungsstrategie gegen Peking. Jake Sullivan, Clintons außenpolitischer Chefberater, schlägt mittlerweile andere Töne an. In der New York Times lobte er Clintons „muskulöse Außenpolitik“ und nannte sie den „letzten und echten Falken“ im laufenden Wahlkampf.

Die Frage, ob sich auf diplomatischem Weg auch der Streit um Gebiets­ansprüche im Südchinesischen Meer lösen läßt, entwickelt sich seit längerem zur Nagelprobe für den Vorsatz Chinas und der Vereinigten Staaten, einer Konfrontation zu entgehen. 

Donald Trump wiederum hat für den Fall seines Sieges einen isolationistischen Kurs angekündigt. Die USA dürften nicht länger den „Babysitter“ für ihre Verbündeten spielen, sondern müßten sich auf die eigenen Interessen konzentrieren und besonders den Zugang zu ihren Märkten strikt kontrollieren – nicht zuletzt gegenüber China, das mit unfairer Dumpingpolitik größter Gläubiger Amerikas geworden sei.

Für die beiden führenden Militär- und Wirtschaftsmächte wird es somit nicht leicht sein, einen Modus vivendi zu finden, auch wenn Xi Jinping im vergangenen Jahr bei seinem Staatsbesuch in den USA betonte, für Peking habe die Entwicklung des eigenen Landes absolute Priorität, es sei daher auf friedliche und stabile Beziehungen angewiesen. Im übrigen sei die heutige Welt ganz anders als die der alten Griechen. Da die Menschheit weiser sei als damals, könne sie den fatalen historischen Kreislauf durchbrechen.

Li Zhihui, außenpolitischer Experte der parteioffiziellen Nachrichtenagentur Xinhua, führt zehn Gründe ins Feld, warum die Thukydides-Falle vermieden werden könne – der wichtigste sei die wechselseitige ökonomische Abhängigkeit, die immer größer werde. Ein weiterer Punkt sei Chinas neue Rolle in der Welt. Ganz anders als das alte Reich der Mitte habe sich die Volksrepublik seit Deng Xiaopings Öffnungspolitik immer stärker in das internationale System eingebracht und sei einer der wichtigsten Akteure geworden. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind gegenwärtig mehr als 3.000 chinesische Blauhelme im Süd-Sudan, im Libanon und in Mali stationiert, weitere 8.000 Soldaten hat Xi Jinping der Uno zugesagt.

Das ist der größte Beitrag aller Ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrats. Neben Washington, London, Paris, Moskau und Berlin hat Peking entscheidend an den Atom-Verhandlungen mit dem Iran mitgewirkt. Bei Konferenzen über globale Herausforderungen wie Klimawandel, Terrorismus und Armutsbekämpfung sitzen chinesische Vertreter seit langem mit am Tisch.

Die Frage, ob sich auf diplomatischem Weg auch der Streit um Gebiets­ansprüche im Südchinesischen Meer lösen läßt, entwickelt sich seit längerem zur Nagelprobe für den Vorsatz Chinas und der USA, der Thukydides-Falle zu entgehen. Bisher sieht es nicht danach aus. Im Gegenteil: Während Washington mit Kriegsschiffen und Kampfflugzeugen verstärkt Präsenz zeigt und seine dortigen Verbündeten gegen China in Stellung zu bringen versucht, beharrt Peking unter Berufung auf historische Dokumente darauf, stets im Besitz der Souveränitätsrechte über rund achtzig Prozent des Seegebiets gewesen zu sein.

So habe nach ihrer Flucht auf die Insel Taiwan auch die von den USA unterstützte nationalistische Regierung unter Tschiang Kai-schek noch in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts Karten jener Hoheitsgewässer veröffentlicht, die, kartographisch abgegrenzt durch eine gestrichelte Linie, China seit Jahrhunderten besitze. Damals hätten die USA keinerlei Einwände erhoben. Die Volksrepublik, so Peking, garantiere nicht zuletzt aus eigenem Interesse die Freiheit der maritimen Handelswege, werde aber niemals eine Verletzung der nationalen Souveränität dulden.

Dieser Konflikt birgt selbst für das ferne Deutschland große Gefahren. Im jüngsten Weißbuch des Verteidigungsministeriums (JF 41/16) bekennt sich die Berliner Regierung zu ihrer angeblich gewachsenen „internationalen Verantwortung“ und zeigt sich bereit, auch militärisch für den freien Welthandel einzutreten. Da die USA bestrebt sind, für ihre geopolitischen Machtinteressen die Nato selbst außerhalb des Bündnisgebiets einzusetzen, könnte eines Tages an Deutschland der Ruf ergehen, in Südostasien zur Überwachung internationaler Gewässer Awacs-Maschinen zu entsenden. War schon im Sommer die Manöverpräsenz deutscher Soldaten an Rußlands Grenze wegen der von Moskau ausgelösten Ängste in den ehemaligen Sowjetrepubliken zwar verständlich, aus historischen Gründen aber heikel, wäre ein Zusammenstoß mit China eine Katastrophe.

Henry Kissinger, der als Realpolitiker vor vierzig Jahren die Annäherung der USA an China maßgeblich vorangetrieben hat, weiß um die gefährlichen Seiten der amerikanischen Außenpolitik. In seinem grandiosen Buch „China – Zwischen Tradition und Herausforderung“ (2011) schreibt er: „Beide Gesellschaften vertreten die Auffassung, daß sie für einzigartige Werte stehen. Der amerikanische Exzeptionalismus ist missionarisch. Er steht für die Ansicht, daß die Vereinigten Staaten die Pflicht haben, ihre Werte auf der ganzen Welt zu verbreiten.“ Der chinesische Exzeptionalismus sei demgegenüber kulturell. China missioniere nicht; es behaupte nicht, daß seine derzeitigen Institutionen außerhalb Chinas relevant seien. Gleichwohl erhebt auch Peking Kissinger zufolge einen globalen Machtanspruch.

In den nächsten Jahrzehnten stehen sich zwei konträre Konzeptionen gegenüber: eine universalistische im Namen der westlichen Wertegemeinschaft und eine nationale, die in einer multipolaren Welt eine geistig-kulturelle Vormachtstellung Chinas anstrebt. 

Somit stehen sich in den nächsten Jahrzehnten zwei konträre Konzeptionen gegenüber: eine universalistische, die im Namen der westlichen „Wertegemeinschaft“ im Grunde eine imperiale Weltmission der USA ist, und eine nationale, die im Zeichen einer multipolaren Welt nach dem Vorbild des alten Reichs der Mitte eine ökonomische und geistig-kulturelle Vormachtstellung Chinas anstrebt.

Von den deutschen Medien mit ihrer eurozentristischen Froschperspektive weitgehend unbeachtet, hat das von Xi Jinping 2013 initiierte „Seidenstraßen“-Konzept (JF 44/16) enorme Fortschritte gemacht. Es handelt sich um ein gigantisches Entwicklungsprogramm, das Asien, Europa und Afrika umfaßt. Mit Hilfe Chinas, das eigens eine Asiatische Infrastruktur- und Investitionsbank (AIIB) gegründet hat, sollen in mehr als sechzig Ländern Häfen und Flugplätze, Straßen, Eisenbahnlinien und Kraftwerke gebaut sowie Telekommunikationsnetze errichtet werden.

Wie bei der 2.000 Jahre alten Handelsstraße zwischen Asien und Europa gibt es eine Land- und eine Seeroute. Die 14.000 Kilometer lange Landroute führt als „Silk Road Economic Belt“ von Chinas alter Kaiserstadt Xian über die Provinz Xinjiang und Zentralasien in die Türkei, über Osteuropa weiter nach Deutschland und Rotterdam sowie südlich nach Venedig. Die maritime Seidenstraße („21st Century Maritime Silk Road“) verläuft über die Straße von Malakka durch den Indischen Ozean, um das Horn von Afrika, durch den Suezkanal über das Mittelmeer ebenfalls nach Venedig. Letztlich treffen sich beide Routen in Duisburg, dem größten Binnenhafen der Welt.

Mit diesem „One Belt, One Road“ genannten Konzept wirkt Peking der Eindämmungsstrategie der USA entgegen und knüpft überall bilaterale Beziehungen, von denen beide Seiten profitieren. In Europa und den USA lassen die Chinesen in den von ihnen gekauften Unternehmen das einheimische Management und die bewährte Belegschaft meistens unangetastet. Mit einem Netz aus derartigen Win-win-Situationen soll letztlich der ganze Globus überzogen werden, so daß China auch politisch der Hauptprofiteur der wechselseitigen Abhängigkeiten und somit eines Tages eigenem Verständnis zufolge wieder der Mittelpunkt der Welt wird. Nach dem Vorbild des alten Reichs der Mitte, nur ohne die Tributpflicht der seinerzeitigen Vasallen, arbeitet die Volksrepublik an der Verwirklichung dieses von Staatschef Xi Jinping propagierten Traums von der „Wiedergeburt der großen chinesischen Nation“ – immer unter dem Damoklesschwert der Thukydides-Falle. 






Peter Kuntze, Jahrgang 1941, war Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Nation und ihre Feinde („Grenzenloses Verhängnis“, JF 7/16).

Foto: Chinesischer Drache frißt US-Dollarnote; Chinas Staatspräsident und Generalsekretär der KP Chinas am 21. Oktober in Peking zur Feier des Langen Marsches: Hauptprofiteur der wechselseitigen Abhängigkeiten