© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/16 / 11. November 2016

Briten auf dem Abstellgleis
Besuch bei der EU-Fraktion der Konservativen und Reformer: Der Brexit wirbelt einiges durcheinander
Hinrich Rohbohm

Das Votum kam einem Donnerschlag gleich. Kaum einer der EU-Parlamentarier hatte ernsthaft damit gerechnet, daß Großbritanniens Wähler am 23. Juni dieses Jahres tatsächlich für den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union stimmen würden. Und sogar Nigel Farage, einer der Hauptbefürworter des sogenannten „Brexit“, hatte bereits vor dem amtlichen Endergebnis schon den Austrittsgegnern zu ihrem Sieg gratuliert.

Es sollte anders kommen. 51,9 Prozent der Briten votierten gegen die EU, nur 48,1 Prozent dafür. „Ich hätte darauf gewettet, daß Großbritannien für einen Verbleib in der EU stimmt“, sagt Bernd Kölmel. Der Europaabgeordnete der aus Teilen des gemäßigten Flügels der AfD entstandenen Partei „Allianz für Fortschritt und Aufbruch“ sitzt in seinem Büro in der achten Etage des Louise-Weiss-Gebäudes in Straßburg und schüttelt mit dem Kopf.

„Da hätten die führenden Leute in der EU sich doch zusammensetzen und gemeinsam mit Großbritannien einen Weg finden müssen, wie wir die EU reformieren können.“ Doch die EU-Vertreter stellten sich stur, sendeten kein Signal der Gesprächsbereitschaft aus. Kölmel wies im Parlament darauf hin, daß nun künftig ein potenter Beitragszahler innerhalb der EU fehle. Schließlich zähle Großbritannien aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke zu den Geberländern in Europa. Sein Vorschlag, den EU-Etat um die entsprechende Ausfallsumme zu kürzen, wurde von der Parlamentsmehrheit abgelehnt.

„Für uns Deutsche ist das dramatisch“

„Das bedeutet nichts anderes, als daß Deutschland einen Großteil dieses entstehenden Fehlbetrages übernehmen muß“, sagt Hans-Olaf Henkel. Für den ehemaligen Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) war Großbritannien „das letzte Land mit gesundem Menschenverstand“ innerhalb der EU. Auch er sagt: „Ich war fest davon überzeugt, daß der Brexit nicht kommt.“ Daß die Briten ihn letztlich doch wollten, daran sei auch Merkel mit ihrer Politik der offenen Grenzen schuld. „Das war Munition für Farage.“ Und für Deutschland mehr als der Verlust eines potentiellen Mitstreiters für freiheitlichere Werte innerhalb der EU. „Wir exportieren mehr nach Großbritannien als Großbritannien nach Deutschland“, sagt Henkel und stellt fest: „Je mehr nun die Briten bestraft werden, desto mehr bestrafen wir uns selbst.“

Sein Fraktionskollege, der emeritierte Volkswirtschaftsprofessor Joachim Starbatty, hat dem Brexit zunächst sogar etwas Positives abgewinnen können. „Ich habe den Austritt begrüßt, weil ich dachte, dann wird die EU endlich wachgerüttelt. Ich erwartete, man denkt dann mal drüber nach, was falsch läuft. Aber es geht einfach so weiter.“ Auch er ist davon überzeugt, daß sich der Brexit für Deutschland negativ auswirkt. „Deutschland ist das Land, daß darunter am stärksten leiden wird.“ Die Zuwanderungskrise habe den Brexit „eindeutig befeuert“. Dabei schließt sich Starbatty der Aussage seines britischen Fraktionskollegen Charles Tannock an, der überzeugt ist, daß Großbritannien in der EU geblieben wäre, hätte Merkel nur halb so viel Engagement für den Verbleib des Vereinigten Königreiches aufgebracht wie für die Rettung Griechenlands.

„Merkel hätte sich 2013 auf Camerons Seite schlagen müssen“, meint der Ex-AfD-Chef und heutige Leiter der deutschen Delegation innerhalb der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR, engl. ECR), Bernd Lucke. „Die Machtbalance verschiebt sich nun weiter in die Richtung der südeuropäischen Länder.“

Das sieht auch die heutige Bundesvorsitzende der Allianz für Fortschritt und Aufbruch, Ulrike Trebesius, so. „Für uns Deutsche ist das dramatisch.“ Daß es zum Brexit gekommen ist, dazu habe Merkel „ihren Teil beigetragen“. „Sie hätte mit Großbritannien ein Reformprogramm vorantreiben können.“ Statt dessen habe sie die Zentralisierungs- und Umverteilungstendenzen innerhalb der EU beschleunigt.

Letzteren werde man in der EU jetzt noch weniger widerstehen können, ist Bernd Lucke überzeugt. Zudem werde der Brexit in Deutschland Arbeitsplätze kosten. Merkels Zuwanderungspolitik habe zwar mit zum Brexit beigetragen. „Den Hauptfehler hat jedoch David Cameron gemacht, indem er das Referendum vorverlegt hatte“, ist sich der Volkswirtschaftsprofessor sicher. „Ich habe diesen Schritt überhaupt nicht verstanden.“

So erging es auch dem Chef der EKR-Fraktion, Syed Kamall. „Ich war überrascht über die Vorverlegung des Votums.“ Warum Cameron sich dazu entschlossen habe, könne er nicht mit Gewißheit sagen. Allerdings dürften seiner Auffassung nach zwei Gründe eine tragende Rolle gespielt haben. „Es stand die Befürchtung im Raum, daß der Migrationsdruck zu einem späteren Zeitpunkt noch größer würde, was den Brexit-Befürwortern in die Hände gespielt hätte. Außerdem dürfte Kanzlerin Merkel hinsichtlich einer Vorverlegung Druck ausgeübt haben, um zu verhindern, daß das Thema Gegenstand des Bundestagswahlkampfs wird“, vermutet der 49jährige gegenüber der JF.

Polnische PiS stellt Führungsfrage 

Daß es tatsächlich zum Brexit kommen würde, damit habe auch er nicht gerechnet. „Ich glaubte den Meinungsumfragen.“ Aber: Die EU habe sich verändert und sei zentralistischer geworden. Vor allem zwei Gründe seien für Großbritannien ausschlaggebend gewesen. Zum einen die verstärkte Einschränkung von Souveränitätsrechten bei den Mitgliedsstaaten. Zum anderen die zunehmenden Migrationsbewegungen, über die Großbritannien die Kontrolle zu verlieren drohe. „Wenn wir in der EU sind, können wir nicht mehr kontrollieren, wer zu uns kommt.“ Insbesondere die Migration aus den osteuropäischen Mitgliedsländern sei dann nicht mehr zu regulieren. „Bei Migranten aus Übersee ist das anders, die brauchen ein Visum. Aber bei Leuten aus der EU haben wir keine Kontrolle mehr.“

Auch von ihm sei vor dem Referendum eine Stellungnahme zum Brexit erwartet worden. Als Chef der von den britischen Konservativen dominierten EKR-Fraktion war für ihn eine Positionierung heikel. Denn bei den Europaabgeordneten der Tories gibt es dazu gänzlich unterschiedliche Auffassungen. Kamall hatte sich für den Brexit ausgesprochen. „Die Leute verlangten eine Antwort von mir, auch der Premierminister.“ Das von den Bürgern gefällte Votum müsse nun akzeptiert werden. Brexit sei Brexit, da könne es kein Zurück geben. „Aber lassen Sie mich eines klarstellen: Der Brexit bedeutet nicht die Zerstörung der Europäischen Union. Wir wollen gute Beziehungen zu den EU-Staaten.“

Vor allem in der EKR-Fraktion habe der Brexit zu einer lebhaften Diskussion geführt. „Hochemotional“ sei es bei diesem Punkt hergegangen, sagen Fraktionsmitglieder der JF. Dabei steht derzeit auch die Frage im Raum, ob weiterhin ein Brite die Fraktion führen könne oder nicht. Der Hintergrund: Während es den Briten nun um Entspannung und verbale Abrüstung gegenüber den EU-Verantwortlichen gehe, fürchtet ein Teil der EKR-Abgeordneten, daß der bisherige EU-kritische Kurs der Fraktion dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden könnte.

Vor allem der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) werden Ansprüche auf den Fraktionsvorsitz nachgesagt. Die PiS wolle künftig noch stärker als bisher Kritik an EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker üben und hege Zweifel, ob das jetzt noch im Interesse der Briten sei. Nach Informationen der JF werde in den Reihen der PiS Kamalls bisheriger Stellvertreter Ryszard Legutko als Kandidat für das Amt des EKR-Chefs gehandelt. Der 66 Jahre alte Professor für Geisteswissenschaften gehört dem Europaparlament seit 2009 an. Von Fraktionsmitgliedern wird er als „sachlich“ und „diplomatisch“ beschrieben. Das gelte allerdings auch für Syed Kamall. Beiden werde zugetraut, für Stabilität innerhalb der EKR sorgen zu können. Ein Umstand, der besonders der deutschen Delegation wichtig ist, von deren Mitarbeit sich Kamall begeistert zeigt.

„Sie haben uns unglaublich weitergebracht, das sind akribische Arbeiter. Vor allem ihre enorme Wirtschaftskompetenz ist für uns ein Gewinn“, lobt Kamall. Er klebe nicht an seinem Posten. „Aber im Moment kommen die Leute zu mir und sagen, sie wollen Stabilität in der Fraktion. Dafür stehe ich.“ „Wir haben ihn aufgrund seiner Fähigkeiten gewählt, daran hat sich nichts geändert“, sagt Hans-Olaf Henkel zur Frage des Fraktionschefs, der am 13. Dezember neu zur Wahl steht.

Die zweite von den Briten dominierte Fraktion nennt sich Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD). In ihr ist die United Kingdom Independence Party (UKIP) vertreten, die mit dem führenden Brexit-Unterstützer Nigel Farage den Fraktionsvorsitzenden stellt. Farage sei auch nach dem Brexit unumstritten, heißt es aus der Fraktion. Man mache sich aber schon jetzt Gedanken darüber, mit wem künftig eine Fraktion gebildet werden könne, sollten die Briten 2019 tatsächlich nicht mehr dem EU-Parlament angehören. Dabei könne man sich offenbar auch ein Zusammengehen mit Parteien der Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF) vorstellen, in der unter anderem die FPÖ und der Front National vertreten sind.





Rechtsfraktionen im EU-Parlament

Jeweils die ersten fünf mitgliederstärksten Fraktionen  

EKR Europäische Konservative und Reformer

74 Abgeordnete aus 18 Ländern

Großbritannien: Konservative Partei – 20 Abgeordnete

Polen: Recht und Gerechtigkeit (PiS) – 17 Abgeordnete

Deutschland: Allianz für Fortschritt und Aufbruch (gewählt für AfD) – 5 Abgeordnete

Niederlande: Neu-Flämische 

Allianz – 4 Abgeordnete

Dänemark: Dänische Volkspartei – 3 Abgeordnete

EFDD Europa der Freiheit und der direkten Demokratie

45 Mitglieder aus 9 Ländern

Großbritannien: Ukip – 21 Abgeordnete

Italien: Fünf-Sterne-Bewegung – 17 Abgeordnete

Schweden: Schwedendemokraten – 2 Abgeordnete

Deutschland: AfD – 1 Abgeordnete (Beatrix von Storch)

Frankreich: Parteilos – 1 Abgeordnete (Joëlle Bergeron, vorm. Front National)

ENF Europa Nationen und der Freiheit 

39 Mitglieder aus 9 Ländern

Frankreich: Front National – 20 Abgeordnete

Italien: Lega Nord – 5 Abgeordnete

Österreich: FPÖ – 4 Abgeordnete 

Niederlande: Partei für die Freiheit – 4 Abgeordnete

Deutschland: AfD – 1 Abgeordneter (Marcus Pretzell)