© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/16 / 11. November 2016

Es gibt nur ein paar stille Tränen
Gedanken zum Volkstrauertag: Ein Kriegsveteran denkt im Altersheim über den Sinn seines Lebens nach
Döring-Ernst von Gottberg

Jetzt haben sie die 90 erreicht, die letzten, noch übriggebliebenen deutschen Weltkriegssoldaten, und sie sind körperlich nur noch ein Wrack. Die Frau ist verstorben, die Kinder sind aus dem Haus. Fürsorglich hat man sie in ein Altersheim gebracht, da werden sie gut ernährt und auch betreut mit „Mensch-ärgere-dich-nicht“-Spielen und Gedächtnistraining. Die schlaflosen Nächte sind lang, da denkt so manch einsamer alter Mann darüber nach, „was war mein Leben?“ Freiheit in der Jugend wie heute, das gab es damals nicht.

Mit 15 Jahren wurde man Flakhelfer und erlebte in diesem grauenhaften Krieg die Bombennächte mit dem Flammenmeer in den Straßen und den getöteten oder verstümmelten Menschen. Man erlebte die Zerstörung des Elternhauses und die Ruinen in den Städten, die einst die Heimat waren. Dann wurden sie als Soldaten einberufen und mußten erfahren, daß Krieg noch viel grausamer sein kann. Geachtet wurden sie beim Heimaturlaub, als sie mit gut gebügelten Uniformen, mit Orden und Verwundetenabzeichen Anerkennung vor der eigenen Bevölkerung fanden. Das dauerte aber nur wenige Jahre. 

Es war eine schwierige Zeit damals, und die Soldaten haben Außergewöhnliches geleistet. Tief war ihr Absturz. Als sie mit zerschlissenen Uniformen (von Orden, Uhren und Eheringen hatten Soldaten der Siegermächte sie „befreit“) ausgemergelt und erschöpft aus der Gefangenschaft in eine fremde Heimat kamen – ihre eigene Heimat gehörte jetzt anderen –, wurden sie als die „Holocaust-Generation“ beschimpft. Man mußte sie aufklären, was „Holocaust“ bedeutet. Sie wurden als „Nazi-Soldaten“ verunglimpft. Dabei waren die Männer vom deutschen Staat verpflichtet worden, unter Einsatz ihres Lebens ihr Vaterland zu verteidigen.

Der Krieg ist Gott sei Dank vorüber, zurückgeblieben sind die seelischen Narben. Und die alten Soldaten haben jetzt im Alter viel Zeit, darüber nachzudenken. Es tut weh, daß die heutige Bundeswehr keine Tradition mit den Soldaten der alten deutschen Wehrmacht halten darf. Was müssen wir doch für böse Menschen gewesen sein!

Erinnerung an einen gefallenen Schulkameraden

Nach dem Krieg haben die alten Soldaten hart gearbeitet für den Wiederaufbau des Landes und auch für das Vergessen des Erlebten. Sie konnten sich ein Auto anschaffen, vielleicht auch ein kleines Häuschen, und sich 14 Tage Urlaub auf Mallorca leisten. Das war in ihrem Leben eine glückliche Zeit. Aber dann starb die Frau, die Kinder gingen aus dem Haus und wollten von der Vergangenheit ihrer Väter nichts wissen; sie wurden von den Besatzungsmächten „umerzogen“, sie genossen ihr junges Leben, ihren Wohlstand und ihre Erlebnisse auf Auslandsreisen. Schließlich kam der Ruhestand, die Rente, gleichzeitig begann die Einsamkeit, das Gefühl, daß man nicht mehr gebraucht wird. Man war nur noch „altes Eisen“, unnötig und unbeachtet. Und vom „Dank des Vaterlandes“ war keine Rede. Man saß im Park auf der Bank und las die Zeitung, verkümmerte immer mehr, bis die liebevolle Betreuung meinte, man müsse jetzt ins Altersheim umziehen, um besser versorgt zu werden. 

Da ist der alte Soldat nun angekommen und wartet ab, bis das Lebensende erreicht ist. Man hat genug Zeit, in schlaflosen Nächten über den Sinn seines zu Ende gehenden Lebens nachzudenken. Was war das für ein Leben? Man versucht sich zu trösten und denkt an seinen früheren Klassenkameraden auf der Schulbank. Der ist im Krieg in jungen Jahren gefallen. Die Kriegsgräberfürsorge kümmert sich um seine Grabstelle auf einem einsamen Friedhof. Aber kein Bundespräsident, keine Bundeskanzlerin, kein Karrierepolitiker bewahrt ihm aus innerer Überzeugung ein ehrendes Gedenken. So ein Leben wie das des gefallenen Klassenkameraden war noch viel unnötiger als meines, so denken die „alten Kameraden“.

Im Altersheim warte ich auf das Ende. Ich erlebe den Tod ständig. Wann werde ich dran sein? Und was bleibt von mir zurück? Was haben all die Leiden im Krieg und das harte Arbeiten im Beruf genutzt? Warum mußte das sein? Warum mußte gerade meine Generation diese Entbehrungen in so einem hohen Maß ertragen? Und keinen Heutigen interessiert das!

Es gibt keine Antwort, nur ein paar stille Tränen, die keiner merkt, unter der Bettdecke, in der Einsamkeit und im Dunkel der Nachtruhe im Altersheim. Ja, das sind die Gedanken der alten Soldaten, die sich von ihrem Volk ins Abseits geschoben fühlen.

Döring-Ernst von Gottberg, Jahrgang 1927, ist Autor des Buches „Eine Jugend in Hitlers Reich. Erinnerungen eines Zeitzeugen“ (Books on Demand, 2. Auflage 2013)