© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/16 / 11. November 2016

Endlich Zugriff auf die Kirchenbücher
Genealogie: Die Digitalisierung der evangelischen Kirchenbücher in Deutschland erleichtert künftig hiesigen Ahnenforschern die Arbeit
Detlef Kühn

Die evangelischen Landeskirchen in Deutschland möchten den Ahnenforschern die Arbeit erleichtern und sich zugleich mittelfristig finanzielle Einnahmen erschließen. Geplant ist, den Inhalt der Kirchenbücher, die seit dem 16. Jahrhundert in den Pfarreien geführt wurden, im Internet zu veröffentlichen. Die Genealogen können diese Entscheidung nur begrüßen und auf zügige Realisierung des Projekts hoffen. Sie wird ihnen die bisher notwendigen zeitraubenden und kostspieligen Forschungsreisen in dezentral organisierte kirchliche Archive oder sogar noch zu Pfarrämtern vor Ort ersparen. Stattdessen kann man als Feierabend-Forscher am heimischen Schreibtisch in aller Ruhe in den oft nicht einfach zu lesenden Kirchenbüchern suchen. 

Für die technische und finanzielle Abwicklung des Projekts haben jüngst die bisher beteiligten Landeskirchen eine Firma namens Kirchenbuchportal GmbH gegründet. Bisher sollen bereits etwa 16 Millionen Seiten aus Kirchenbüchern verschiedener Gegenden digitalisiert und online erreichbar sein. Der Zugang ist allerdings gebührenpflichtig. 

Kostenlos kann man über das Portal Archion.de immerhin feststellen, welche Kirchenbücher aus welchen Orten bereits digitalisiert sind. Da sich auch das Evangelische Zentralarchiv in Berlin an dem Unternehmen beteiligt, können das auch Kirchenbücher aus ostdeutschen Gemeinden östlich von Oder und Neiße sein. Danach müssen die gebührenpflichtigen Zugangspässe zu den einzelnen Seiten über die Kirchenbuchportal GmbH in Stuttgart erworben werden. Nachhaltiger Erfolg dieses Projektes würde jedoch voraussetzen, daß sich nicht nur alle 21 evangelischen Landeskirchen daran beteiligen, sondern auch die katholische Kirche. Kirchenbücher sind nun einmal die bei weitem wichtigste Quelle für private Familienforscher, aber ermöglichen auch vielfältige sozial-  oder medizingeschichtliche Forschungen von allgemeinem Interesse.

Baltische Staaten als Vorbild bei der Digitalisierung

Bei der Digitalisierung sind die Kirchen in Deutschland keine Vorreiter – ganz im Gegenteil. Vor allem die baltischen Staaten Estland und Lettland zeigen seit langem, wie man vorbildlich mit seinem Archivmaterial umgeht.Den Anfang machte vor zehn Jahren das Estnische Historische Staatsarchiv in Tartu/Dorpat. Es stellte nicht nur die Kirchenbücher, sondern auch weitere Akten aus den Gemeinden, im Internetportal „saaga“ der Öffentlichkeit zur Verfügung – und zwar kostenlos. 

Die Letten folgten mit dem ebenfalls kostenfreien Portal „raduraksti“ (Familienforschung). Für deutsche Genealogen mit baltendeutschen oder estnischen und lettischen Vorfahren ist diese Forschungsmöglichkeit von besonderer Bedeutung. Das Staatsgebiet Estlands und Lettlands gehörte bis zum Ersten Weltkrieg zum Russischen Reich. Die sogenannten deutschen Gouvernements Estland, Livland und Kurland wiesen jedoch seit dem Mittelalter eine deutsche Oberschicht auf, der auch bis in das 19. Jahrhundert hinein die evangelischen Pastoren angehörten. Da die Verwaltungssprache in diesen Provinzen Deutsch war, wurden auch die Kirchenbücher über mehrere Jahrhunderte hinweg in deutscher Sprache geführt, jedenfalls bis zur Russifizierung nach 1880. Danach dann (von denselben Pastoren) auf russisch und nach dem Ersten Weltkrieg selbstverständlich in estnischer bzw. lettischer Sprache. Für deutsche Genealogen bedeuten diese historischen Gegebenheiten  eine erhebliche Erleichterung für ihre Forschungen.

Die Ahnenforschung war in Deutschland nach dem Krieg noch lange belastet durch den „Ariernachweis,“ den im Dritten Reich jeder führen mußte, der im Staatsdienst oder in regimenahen Organisationen tätig werden wollte. Diese bürokratische Perversion, für die besonders die Kirchenbuchforschung mißbraucht wurde, hatte aber auch einen positiven Effekt: Viele Menschen haben auf der Suche nach ihrer „arischen“ Großmutter dauerhaft Freude an der Erforschung ihrer Familiengeschichte gefunden und sich nicht mit der geforderten Angabe ihrer Großeltern begnügt. 

Die Ahnenpässe wurden in vielen Familien auf weitere Generationen ausgebaut und die entsprechenden Unterlagen aufbewahrt. Sie erleichtern noch immer Genealogen den Einstieg in eigene Forschungen. Heute ist die „Jagd nach den Ahnen“ für Hunderttausende in Deutschland und Einwanderungsstaaten wie den USA oder Australien ein beliebtes Hobby. Seine positiven Auswirkungen auf das allgemeine historische Wissen sollten in Zeiten, in denen der Niedergang des Fachs Geschichte in den Schulen nicht mehr zu übersehen ist, nicht unterschätzt werden.

Wer seine Vorfahren als eigenständige Persönlichkeiten ernst nimmt, wird sich nicht damit begnügen, nur Daten über Geburt, Tod und Hochzeiten zu sammeln. Die sind wichtig, aber sie bilden nur den Rahmen für ein pralles, vielseitiges Leben. Berufswahl, Heiratsverhalten, gesellschaftliches oder politisches Engagement, die wirtschaftlichen und kirchlichen Verhältnisse hängen oft von Faktoren ab, die ohne ein breites historisches Wissen nicht zutreffend bewertet werden können. Das gilt besonders für Vorfahren in den östlichen Siedlungsgebieten des Deutschen Reiches, aber auch Rußlands, des Balkans oder eben auch des Baltikums, wo man nur noch wenige Deutsche antrifft.

Unabhängig von diesem Bildungseffekt genealogischer Forschungen gilt: Wer seine Vorfahren kennt, erfährt auch mehr über sich selbst. Jeder Ahn ist unverzichtbar für unsere Existenz. Sie alle in ihrer Gesamtheit bilden unsere Erbmasse, ob uns das gefällt oder nicht. Diese Erkenntnis ist auch von politischem Interesse. Viele, nicht nur junge Menschen machen sich heute Gedanken über „Identität,“ die eigene, aber auch die ihres Volkes. Ahnenforschung kann dabei hilfreich sein. 

Viele Deutsche stoßen auf ausländische Vorfahren

Sie zeigt, daß die Deutschen, wie andere Völker auch, nie „reinrassig“ waren. Das deutsche Volk, so wie es in tausend Jahren zusammenwuchs, setzt sich zu etwa 60 Prozent aus Abkömmlingen germanischer und bis zu 40 Prozent aus Angehörigen slawischer Stämme zusammen. Diese haben stets auch kleinere oder größere Teile der Nachbarvölker aufgenommen, integriert und assimiliert, an die meist nur noch Familiennamen erinnern. 

Beispiele sind die französischen Hugenotten (Fontane, de Maizière), aber auch Litauer im östlichen Ostpreußen mit meist auf -at oder -eit endenden Namen (Urbschat, Abromeit), die man nach der Vertreibung in ganz Rest-Deutschland findet. Dazu kommen Polen (Namen mit der Endung ski, aber auch andere) sowie Tschechen, Dänen und viele mehr. Sie alle sind schon seit Jahrhunderten assimiliert und fühlen sich zu Recht längst als Deutsche. 

Daß dies in höchstens drei Generationen relativ problemlos gelang, war nicht selbstverständlich. Es gelang nur deshalb, weil eine Ghetto-Bildung verhindert wurde und vor allem – ganz wichtig – weil die Nicht-Deutschen normalerweise demselben Glauben anhingen wie ihre deutschen Nachbarn. Unterschiedliche Glaubenszugehörigkeiten waren bis ins 20. Jahrhundert hinein eher ein Integrationshindernis als Sprachprobleme. Das war schon bei Katholiken und Protestanten so. Muslime (Türken), die gelegentlich einzeln einwanderten, wurden christlich unterwiesen und selbstverständlich getauft. Auch diese Integrationserfolge findet man in den Kirchenbüchern bezeugt.

 

https://vkaekd.wordpress.com/

 www.archion.de 

 www.ra.ee/saaga

 www.lvva-raduraksti.lv