© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/16 / 11. November 2016

Als Filiale von Goldman Sachs hat die EU keine Zukunft
„Bologna“-Reform als „angekündigter Unfall mit Fahrerflucht“: Brüssels Ökonomismus in Bildung und Forschung
Wolfgang Müller

Die nach Bologna, Europas ältester Universität, benannte Hochschulreform sei ein „angekündigter Unfall mit Fahrerflucht“ gewesen. Denn die dafür verantwortlichen Politiker hätten sich inzwischen zumeist in den Ruhestand verabschiedet (Welt am Sonntag vom 30. Oktober). 

Diese sarkastische Bilanz stammt von einem, der es wissen muß. Der Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen, in der Anlaufphase der Reform Präsident  der FU Berlin und jetzt in derselben Position an der Hamburger Universität, ist einer der bekanntesten deutschen Hochschul- und Bildungspolitiker, von dem allerdings eine vergleichbar schneidige Attacke gegen Bologna, wie er sie seit kurzem häufiger vorträgt, damals nicht geritten wurde. Daher lassen sich seine schonungslosen Abrechnungen auch lesen wie reumütige Selbstanklagen gründlich kurierter Euro-Enthusiasten, die Ende der 1990er jenem anderen „Reformprojekt“ zujubelten, dessen Umsetzung inzwischen gleichfalls zu einem – von jedem seriösen Wirtschaftsexperten prognostizierten – „Unfall“ geführt hat.

Lenzen macht für das Herzstück der Reform, die Verschulung des Studiums durch Verkürzung in Form von Bachelor- und Masterstudiengängen, ein ominöses „Zugeständnis an die Briten“ verantwortlich. Eine reichlich unterkomplexe Ursachenanalyse, die wohl nur dann akzeptabel ist, wenn „Briten“ hier als Synonym für den Ungeist des neoliberalen, angelsächsischen Effizienzdenkens steht, dem die Bologna-Architekten mitsamt ihrer nationalen akademischen Gefolgschaft, zu denen eben auch die Phalanx deutscher Hochschulpräsidenten der Generation Lenzen zählte, willig huldigten. Mit dem von Lenzen nun beklagten Ergebnis, daß „uns“ nun die „Persönlichkeitsbildung“ fehle, wie sie selbst in den von 1968 geschleiften Strukturen der Humboldtschen Universität westdeutschen Zuschnitts noch vermittelt worden war. 

Auch der von ihm beweinte „Autonomieverlust“ der Hochschulen, die faktische Abwicklung der auf „Einsamkeit und Freiheit“ basierenden Universitäts-idee Wilhelm von Humboldts, ist von der routiniert in die „europafeindliche“ Ecke verbannten kleinen Schar der Bologna-Gegner der ersten Stunde exakt vorhergesagt worden. Desgleichen das parallele Desaster der auf Bologna getrimmten Schulreformen. Die zur Folge hätten, daß die gymnasiale Oberstufe keine studierfähigen Abiturienten mehr entlasse, weil sie, wie Lenzen lamentiert, auf das Niveau der US-High School abgesunken sei, deren Absolventen Allgemeinbildung erst auf dem College vermittelt werde.

Kritik am „ökonomistischen Reduktionismus“ 

Während der 68jährige Didaktiker Lenzen aber nur Symptome der Misere exponiert und sich mit einem nostalgischen Rückblick auf die eigene erfüllte Studienzeit tröstet, als der „Großordinarius sich von niemandem reinreden ließ“, nennt ein anderes Schwergewicht des Wissenschaftsmanagements, der Altgermanist Peter Strohschneider (Jahrgang 1955), Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), schon eher Roß und Reiter. Zumal ihm der „schockierende Ausgang des Brexit-Referendums“ die Zunge gelöst hat (forschung, 2/2016). 

Dabei konkretisiert er Lenzens Pauschalurteil über die Anpassung ans ökonomisierte anglo-amerikanische Bildungswesen, um es zugleich mit der kühnen These zu verknüpfen, daß die Briten die EU verließen, um vor den Geistern zu fliehen, die sie einst gerufen hätten. Denn jener „ökonomistische Reduktionismus“, dem übrigens mittlerweile große Teile der als volkswirtschaftlich „nutzlos“ deklarierten Geisteswissenschaften an englischen Hochschulen zum Opfer gefallen sind, diktiere in der EU-Kommission längst nicht mehr allein die Bildungs- und Forschungspolitik. 

Deswegen ist der im westdeutschen Postnationalismus „europäisch“ sozialisierte Strohschneider alarmiert und sieht das „Konzept Europa“ als Ganzes bedroht. Wenn von Brüsseler Eurokraten nämlich weiter alle Politikfelder „ökonomistisch verkürzt“ würden, erodiere die Legitimation der EU noch rascher und, wie er mit einer verunglückten Metapher warnt, hinterlasse ein „Vakuum an reichen kulturellen Bedeutungen“, das „nationale Populismen und neue Formen von Fremdenfeindlichkeit“ füllen würden. Weniger verklausuliert ausgedrückt: Als Filiale von Goldman Sachs hat die EU keine Zukunft.

Wie weit der Ökonomismus bereits die Brüsseler Forschungspolitik deformiere, signalisierten Parolen des dafür zuständigen EU-Kommissars Carlos Moedas, der von Wissenschaftlern permanent „Impact“, also „Auswirkung“, wirtschaftlichen Nutzen, verlange und damit „anwendungsbezogene“ gegen Grundlagenforschung ausspiele. Moe-das’ „ökonomische Engführung“ von Forschungsförderung denunziere so die kulturellen Bedingungen von Wissenschaft, das Ethos der Wahrheitssuche und die interesselose Neugier, als „traditionalistische Hemmnisse“, ohne zu ahnen, daß er damit die „Zukunftsfähigkeit des Kontinents“ in Frage stelle.