© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/16 / 18. November 2016

Je näher die Wahl, um so mehr Hoffnung
Frankreich: Marodes Sozialsystem und schwächelnde Wirtschaft – ein Röntgenbild in drei Zahlen
Jürgen Liminski

Frankreichs Linksregierung und  das Sozial- und Wirtschaftssystem – ein Dauerthema mit Trauerflor. Darüber können auch die Zahlen des dritten Quartals – 0,2 Prozent Wachstum, 60.000 Arbeitslose weniger – nicht hinwegtäuschen. Die leichte Belebung hat mit der Weltkonjunktur und mit der Hoffnung, ja der Gewißheit zu tun, daß die Uhr der Linken abläuft. In sechs Monaten wird gewählt und alle sagen: Danach kann es nur besser werden! Das belebt und regt zu Investitionen an. 

In der Tat, egal welcher bürgerliche Politiker Präsident François Hollande beerbt, es wird mehr liberale, die Unternehmen und auch die Familien entlastende Maßnahmen geben. Alles Kungeln hilft nicht, wenn die Zeit nicht für Reformen genutzt wird. Die Arbeitslosigkeit stieg unentwegt. Kleinere Reformen wurden in Gang gesetzt; was jedoch fehlt, ist eine veritable Arbeitsmarktreform, die Kündigungen und damit Einstellungen erleichtert und die die Wettbewerbsfähigkeit durch eine höhere Produktion, das heißt längere Arbeitszeiten, verstärkt. 

Mit anderen Worten: Die üppigen, in Europa einzigartigen sozialen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte müssen abgebaut oder mindestens reformiert werden. Das haben Präsident Hollande, Premier Manuel Valls und vor allem sein früherer Wirtschaftsminister, der   vermutliche Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron auch verstanden. Die Arbeitsmarktreform, das nach der Arbeitsministerin el Khomri benannte Gesetz, legt die Arbeitszeit jetzt in die Hand der einzelnen Unternehmen und ihrer Belegschaften, nicht mehr in die Verfügung der Branche, mithin der Gewerkschaften. 

Das Arbeitsmarktgesetz ist der Beginn einer Strukturreform, die dringend nötig ist. Frankreichs Wirtschaft wächst seit mehr als zehn Jahren langsamer als der Durchschnitt der EU, und zwar um 0,4 Prozent und mußte auch jetzt wieder seine Wachstumserwartungen dämpfen, während die anderen Länder, zum Beispiel Deutschland, sie nach oben revidierten. 

Auch die Handelsbilanz ist seit Beginn des Jahrtausends  negativ, was dazu führt, daß jedes Jahr der Konsum von mehr als zehn Milliarden Euro weder von der Binnenproduktion noch von Exporten finanziert wird. Die Finanzierung geschieht über den Rückgriff auf französisches Kapital, also Sparkonten oder den Verkauf von nationalem Tafelsilber in Form von Monumenten, Häusern, Fußballvereinen an ausländische Investoren, meist Araber oder Chinesen. Die Alternative ist  klar: Frankreich verkauft sich. Oder es reformiert sich. 

Man kann die wirtschaftliche Lage der Grande Nation an drei Zahlen, genauer Prozentpunkten festmachen. Als erstes: 64,6 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter gehen einer bezahlten Beschäftigung nach. In Deutschland sind es 73 Prozent. Die anderen studieren, sind arbeitslos oder in Frührente. 

Deutsches duales System dient als Vorbild

Bei vielen Arbeitslosen ist es eine mangelnde Ausbildung, und das gilt vor allem für Doppelstaatler, konkret Einwanderer aus dem Maghreb und anderen Ländern Afrikas. Selbst wenn der Arbeitsmarkt weiter liberalisiert wird, was alle bürgerlichen Kandidaten für die Nachfolge Hollandes auf dem Programm haben, werden viele arbeitslos bleiben, weil ihnen die Bildungsvoraussetzungen für unsere komplizierte, arbeitsteilige Wirtschaft fehlen. Der Sockel der Langzeitarbeitslosen ist breit und hoch und wird es vermutlich auch bleiben. 

Dann muß zu der Lockerung des Arbeitsmarktes auch eine praxisnähere Berufsausbildung kommen. Hier ist eine Reform dringend geboten. Das duale Ausbildungssystem Deutschlands könnte als Vorbild dienen. Nicht umsonst ist die Jugendarbeitslosigkeit mit 24 Prozent mehr als dreimal so hoch wie in Deutschland (sieben Prozent). Aber auch der hohe Mindestlohn, mit knapp zehn Euro der zweithöchste in Europa nach Luxemburg, verhindert Anstellungen. 

Am stärksten aber bremst das Arbeitsrecht. Junge Leute können froh sein, wenn sie einen Zeitvertrag bekommen. Unbefristete Arbeitsverträge sind so etwas wie ein Sechser im Lotto. Es ist praktisch unmöglich, solche Verträge zu kündigen, selbst in wirtschaftlich schwierigen Zeiten.

Die zweite Zahl: 57,6 Prozent des Bruttosozialprodukts gehen in die Verwaltung, und zwar des Zentralstaats, der Kommunen und der Sozialversicherung. Die Vergleichszahlen für Italien sind 51, für Deutschland 44, für Großbritannien 41 und für die Schweiz 34 Prozent.  Nun könnte man das noch hinnehmen, wenn die Dienstleistung entsprechend besser wäre. Wer aber in Frankreich oder Deutschland ins Krankenhaus kommt, wird keinen Unterschied feststellen. Niemand wird auch einen Unterschied in Frankreich selber zwischen den Jahren 2000 und heute bemerken. Aber vor anderthalb Jahrzehnten hatte Frankreich fast eine halbe Million Staatsdiener weniger als heute. Dabei ist die Bevölkerung kaum gewachsen.

Bürgerliche Kandidaten haben harte Arbeit vor sich

Keine Qualitätssteigerung, aber erhebliche Mehrkosten: Wo geht das Geld hin? Das fragt sich auch der Rechnungshof und listet alljährlich zahllose Beispiele der Verschwendung im Staatsdienst auf. Es gibt kein anderes Land, vielleicht Belgien noch, das pro Kopf so viele Funktionäre und Mandatsträger hat. Jeder fünfte Arbeitnehmer ist in der Verwaltung beschäftigt, insgesamt 22 Prozent. Der Durchschnitt in der OECD liegt bei 15 Prozent. Hier ist jede Menge Reformbedarf. Es gibt praktisch keine Regierung in der Fünften Republik, die nicht bei der Aufblähung des Staatsapparates mitgewirkt hat. 

Wenn Frankreich sparen wollte, hier wäre viel Verschlankungspotential, und alle ernsthaften Kandidaten der Bürgerlichen, also Alain Juppé, Nicolas Sarkozy und François Fillon sehen sowohl eine Reduktion der Zahl der Staatsdiener um 250.000 bis 300.000 in fünf Jahren vor als auch eine Erhöhung der Arbeitszeit von heute 35 Stunden auf 37 bis 39 Stunden. Die Kandidaten unterscheiden sich nur in Details, und da einer von ihnen Präsident werden wird, kann es für Frankreich in diesem Bereich in der Tat eigentlich nur besser werden. 

Die dritte Zahl lautet hundert Prozent. Soviel beträgt die Staatsschuld gemessen am Bruttosozialprodukt. Seit zwei Jahren schlägt das nicht so sehr zu Buche, weil die Zinsen niedrig sind und die Konjunktur auch in Frankreich angezogen hat. Aber sobald die Zinsen steigen, wird Frankreich ein enormes Problem bekommen. Das wird Kräfte und Mittel binden, der Gürtel wird sehr eng geschnallt werden müssen. Alle Kandidaten haben deshalb Kürzungen im Staatshaushalt  vorgesehen bis zu hundert Milliarden in drei bis fünf Jahren. Auch in den Sozialhaushalten wird deutlich gestrichen werden müssen. 

Ohne diese Kürzungen wird es keine neuen Kredite und keine Investitionen, das heißt kein neues Wachstum geben. Man wird unter anderem, auch da sind sich die Kandidaten alle einig, die Lebensarbeitszeit verlängern, sprich das Renteneintrittsalter auf mindestens 65 hochschrauben müssen. Man kann sich die wehenden roten Fahnen der Gewerkschaften, vor allem der CGT, auf der Straße schon vorstellen.