© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/16 / 18. November 2016

Von der Nabelschnur lösen
Türkei: EU-Beitritt, Präsidialrepublik, Kampf gegen Kurden, Gülen-Bewegung, Assad und IS – Erdogan manövriert sein Land in schwere See
Marc Zoellner

Daß Recep T. Erdogan ein Mann von großer Geduld sei, dieses Attribut würde er selbst wohl problemlos von sich weisen. Doch selten erlebten die Türken ihren Präsidenten so aufgebracht wie in den vergangenen Wochen.

„Sie nennen mich einen Diktator“, verkündete der türkische Präsident Anfang November kämpferisch auf einer Versammlung AKP-naher Studenten. „Aber das interessiert mich nicht. Das geht zum einen Ohr rein und zum anderen Ohr wieder heraus. Das einzige, was mich interessiert, ist, was mein eigenes Volk sagt.“

Das ausgemachte Ziel seiner Schelte: die EU-Kommission in Brüssel. Seit Monaten schon liegen die Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen der Türkei zur Europäischen Union auf Eis. So verweist ein vergangene Woche veröffentlichter Jahresbericht der EU-Kommission zwar explizit auch auf „das gute Niveau der Vorbereitung“ der Türkei, „dem Wettbewerbsdruck innerhalb der EU gewachsen zu sein“. Speziell in Fragen der Menschenrechte sowie der Presse- und Versammlungsfreiheit habe die Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung jedoch gravierende Rückschritte erleben müssen.

Gülens Exil in den USA steht auf wackligen Beinen

„Laufende und neue Strafverfahren gegen Journalisten, Autoren und Blogger, die Rücknahme von Akkreditierungen, eine hohe Anzahl von Verhaftungen von Journalisten und ebenso die Schließung zahlreicher Massenmedien infolge der Umsturzversuche vom Juli mahnen zu ernsthafter Sorge“, verkündet der EU-Bericht. Die Zahl der Verhafteten spricht diesbezüglich eine deutliche Sprache: Allein in den vergangenen drei Monaten wurden rund 35.000 türkische Bürger von Sicherheitskräften festgenommen – unter ihnen auch führende Politiker der kurdisch-oppositionellen HDP, denen Verbindungen zur linksterroristischen PKK unterstellt werden. 

Die Anfang Oktober noch einmal um drei Monate verlängerte Notstandsverkündung erlaubt es den Behörden überdies, Verdächtige ohne Anklage für bis zu dreißig Tage festzusetzen. Beinahe 170 Zeitungen und Rundfunkanstalten wurden vom türkischen Staat geschlossen, Zehntausende Menschen aus dem Staatsdienst entfernt. Bezüglich der Rechtsstaatlichkeit sowie der Menschenrechtssituation, konstatierte EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn, „hat sich die Türkei augenscheinlich entschlossen, sich von Europa zu entfernen.“

Erdogan manövriert dieser Tage in schwer befahrbaren Gewässern: Erneut erschütterten Terroranschläge mit bislang elf Toten Anfang November den Süden der Türkei. Und dort gerade in Diyarbakir, wo der jüngst verhaftete Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, lebt und arbeitet. Die militant-linksradikale Gruppierung der Kurdischen Freiheitsfalken (TAK, JF 9/16) bekannte sich sogleich zur Urheberschaft des Massakers – ebenso aber auch Anhänger des Islamischen Staats (IS).

Davor, daß der Feldzug Ankaras gegen letztere auch neue Anschläge radikaler Islamisten auf türkischem Boden provozieren könnte, wurde bereits mehrfach vom türkischen Geheimdienst gewarnt. 

Denn seit nunmehr drei Monaten führt die Türkei einen Bodenkrieg gegen das selbsternannte Kalifat: Über 1.500 Quadratkilometer Boden konnten die türkischen Landstreitkräfte seit dem 24. August in ihrer „Schutzschild Euphrat“ getauften Offensive bereits vom IS erobern sowie rund 1.200 IS-Dschihadisten ausschalten; ebenso wie – und das ist Ankara ebenfalls wichtig, – 250 Kämpfer der kurdischen PKK. Der Kampf gegen den staatsbedrohenden Terrorismus, so der Duktus der AKP-Regierung, sei immerhin ein allumfassender Kampf: gegen das Kalifat, gegen die PKK und ihre Unterstützer, gegen den Tiefen Staat und die Gülen-Bewegung.

Zwei Punktsiege dürften Erdogan jedoch in den kommenden Monaten garantiert sein: Zunächst gegen die Gülenisten, deren Anhänger unter Verdacht stehen, den niedergeschlagenen Staatsstreich vom Sommer geplant und ausgeführt zu haben. Ihr Gründer und spiritueller Anführer, der Prediger Fethullah Gülen, lebt derzeit zwar trotz eines türkischer Auslieferungsgesuchs noch immer im sicheren Exil in den Vereinigten Staaten. Nach der Wahl Donald Trumps zum künftigen Präsidenten der USA steht Gülens Zufluchtsort jedoch auf wackligen Beinen. Denn für Trumps militärischem Berater und potentiellen Verteidigungsminister Michael Flynn sei Gülen „ein zwielichtiger islamischer Mullah“, wie dieser in der Politzeitschrift The Hill kommentierte, und mehr noch: „Der Osama bin Laden der Türkei.“

Auch in Fragen der Verfassungsänderung hin zum präsidialen System für die Türkei zeigt sich Bewegung: Seit seiner Wahl zum Präsidenten im August 2014 arbeitete Erdogan energisch auf diese hin und verwies dabei immer wieder auf ähnliche Erfolgsmodelle in Rußland und den USA. Die AKP scheiterte jedoch stets an der zur Reform nötigen Mehrheit im türkischen Parlament – zumindest bislang. 

Mit der nationalistischen MHP, der zweitgrößten Oppositionspartei in Ankaras Volksversammlung, scheint die AKP sich nun jedoch einig zu sein. „Zusammen mit der MHP werden wir die Verfassungsänderung durchsetzen“, verkündete der türkische Ministerpräsident Binali Y?ld?r?m nach einem Treffen mit dem MHP-Führer Devlet Bahçeli vergangenen Freitag stolz. 

AKP fühlt sich von Brüssel unverstanden

Die im Jahresbericht der EU veröffentlichten Vorwürfe gegen den sich immer autokratischer gebärdende Regierungsstil Erdogans mag die AKP-Regierung jedoch nicht auf sich sitzen lassen. „Manche Kapitel des Berichts sind weit davon entfernt, als objektiv gelten zu können“, verwahrte sich der türkische Europaminister Ömer Çelik gegen die Kritik der EU am innenpolitischen Vorgehen der AKP, und warf der Kommission in Brüssel „einen Mangel im Verstehen der Türkei“ vor.

Noch deutlichere Worte fand der türkische Präsident selbst. „Die Europäische Union versucht, uns zum Rückzug aus den Beitrittsverhandlungen zu nötigen“, witterte Erdogan sinistere Motive hinter dem jüngst veröffentlichten Bericht. „Aber wenn sie uns nicht wollen, sollten sie sich endlich klar darüber werden und eine Entscheidung treffen.“

Denn auch die Türkei, so Erdogan, werde alsbald ihre Neuausrichtung zur EU beschließen: Und sei es – mit warnend erhobenem Zeigefinger auf das Beispiel des Brexit – durch einen eigenen Volksentscheid. Vielleicht, gab Erdogan den Studenten Anfang November zu bedenken, sei es endlich an der Zeit, „uns von dieser Nabelschnur zu lösen“.