© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/16 / 18. November 2016

Von der Erziehung zum wahren Menschen
Bildungserlebnis: Den Deutschen ist Italien als geistig-kulturelles Sehnsuchtsland fremd geworden
Eberhard Straub

Goethes „Italienische Reise“, deren erster Teil vor zweihundert Jahren im November 1816 erschien, wurde rasch zum einzig populären unter seinen späten Werken. Seine Erinnerungen an Italien als befreiendes Bildungserlebnis kamen zum richtigen Zeitpunkt. Denn nach fast dreißig Jahren Krieg mit den französischen Revolutionsregierungen und anschließend mit Napoleon hatte Europa 1815 in Wien zum Frieden und zur Ordnung zurückgefunden. Sämtliche Europäer wollten nun endlich das genießen, was sie so lange entbehrt hatten: die allgemeine Ruhe. Das hieß, auch wieder ausgiebig reisen zu können.

Die Deutschen standen schon seit gut zweihundert Jahren in dem Rufe, immer unruhig zu sein und es bei sich nicht aushalten zu können vor lauter Neugier auf fremde Völker und Lebensformen. Der allgemeine Frieden erlaubte es ihnen, in hellen Scharen in das Land aufzubrechen, das ihnen überhaupt nicht fremd war, vielmehr über Bücher als Ziel ihrer Sehnsucht sehr vertraut – nach Italien. 

Der junge Goethe, von seinem Vater, den in Italien eine Ahnung vom Glück gestreift hatte, über Bücher und Stiche schon früh mit diesem verheißungsvollen Land bekannt gemacht, war damals kein Einzelfall. Künstler, Literaten, Historiker oder Philosophen würdigten Italien als das Reich der idealen Schönheit, als ein neues Griechenland und ein neues Rom, wiedergeboren aus dem Geist der Klassik während der Renaissance. Dies neue Rom in seiner staatlichen Mannigfaltigkeit galt aber auch als die hohe Schule der Politik und des politischen Denkens. Aristokraten und Bürger, die neben der Kunst nicht die Lebenskunst vergaßen, wollten darüber hinaus liebenswürdige Weltläufigkeit im Austausch mit den Italienern und ihrer unbefangenen Lebensart gewinnen. 

Das gelang Goethe noch kurz vor der Revolution 1787/88. Die Unterbrechung der Bewegungsfreiheit unterbrach die Beschäftigung der Deutschen mit Italien überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: Wie das klassische Griechenland suchten Romantiker und geistreiche politische Köpfe leidenschaftlich mit der Seele und mit Büchern dies verheißungsvolle Land. Dort erst vollende sich die sittliche und ästhetische Erziehung zum wahren Menschen, zum homo vere humanus, wie es immer wieder hieß, in dieser Mitte Europas, in deren Mitte das ewige Rom liegt, die Hauptstadt der Welt, in der sich seit jeher alles versöhnte, Hellenismus und Latinität, Orient und Okzident, die Germania und die Romania, aber auch klassisches Heidentum und neues Christentum. Das hatten die jungen Deutschen auf dem Gymnasium und auf der Universität gelernt.

Davon handelte Goethes „Italienische Reise“, mehr ein Bildungsroman als ein Reisebericht. Sein Beispiel ermunterte dazu, wie Goethe der reinigenden und befreienden Macht des Kunstschönen zu vertrauen und als durch Italien verwandelter, nun wahrhaft gebildeter Mensch zurückzukehren und in der unvermeidlichen Prosa des Alltags nicht zu verzagen. 

Dieser Enthusiasmus ließ sich durch erhebliche Nachteile oder Geduldsproben gar nicht erschüttern. Das Reisen auf unzulänglichen Straßen war höchst unbequem, die meisten Hotels entbehrten noch des Komforts, der erst nach 1860 allmählich üblich wurde, und die berühmte italienische Küche lernten vorerst die meisten gerade in Gasthäusern nicht kennen. Mit dem Überfall von Räubern mußte gerechnet werden. Unübersehbar lag überall Müll herum. Wie Italiener ja ohnehin sorgloser damit umgingen als die Deutschen, die sich allerdings ihre Freude nicht durch Nachlässigkeiten mindern lassen wollten.

Die politische oder soziale Wirklichkeit nahmen die schönheitstrunkenen Kunst- und Menschenfreunde kaum wahr. Höchstens ein Journalist oder Jurist gab sich gelegentlich mit diesem allzu irdischen Tand ab, der nichts zur inneren  Selbstvollendung beitrug. Diese Idealisten lebten in einem idealen Italien, zur poetischen Idee gesteigert. Sie folgten der hochherzigen Aufforderung Schillers: „Wisset ein erhabner Sinn, / Legt das Große in das Leben, / Aber sucht es nicht darin!“

Süßes Nichtstun auf den Straßen und Plätzen

In diesem Sinne bereiteten unzählige Novellen, Gedichte, Dramen und Romane auf die Italienreise vor. Unerschüttert blieb die Vorstellung vom großen freien Individuum, das zuerst heroisch-leidenschaftlich in Italien auftrat im prächtigen Beginn der Moderne, eben während der italienischen Renaissance. Die Poesie der freien Subjektivität entdeckten die Ästheten und Intellektualisten außerhalb der Museen und Palazzi im unmittelbaren Leben auf den Straßen und Plätzen, bei Volksfesten oder Wettkämpfen. Davon ließen sie sich zuweilen so begeistern, daß sie im süßen Nichtstun, im Sich-Treiben-Lassen und bloßer Teil einer bewegten Menge zu sein,  dem Glück begegneten, den Wonnen, die das gewöhnliche Leben bereithält, sofern noch nicht von den Sachzwängen des modernen Kapitalismus und des Verwaltungsstaates in seiner Substanz verwundet. In Italien konnte jeder auf Momente, verbracht wie im Paradiese, hoffen, die ihn der Moderne mit ihren Häßlichkeiten entrückten. Italien war ein Ort der Erholung  für jene, die im ehernen Gehäuse einer durchrationalisierten Lebenswelt von sich selbst entfremdet schmachteten. 

Neben der weltfremden Fiktion vom klassischen Athen und Rom behauptete sich die Utopie vom menschlichen, die Sinne beflügelnden und den Geist erweckenden Italien. Wie die Einbildungen der vorbildlichen Klassik in der Antike die Altertumswissenschaften voranbrachten, so nötigte das Italienerlebnis zu immer subtileren wissenschaftlichen und historischen Annäherungen an italienische Kunst und allgemeine Geschichte. Deren Ergebnisse verlockten erst recht dazu, in das gelobte Land aufzubrechen, das Wunder und Weihen versprach, die nirgendwo sonst zu erwarten waren. Historiker, Archäologen, Philologen und Künstler bestätigten die Legende vom einzigartigen Italien und wurden nicht müde, unter den Deutschen das Heimweh nach diesem  Garten Europas wachzuhalten. Daran ändert sich auch nichts, als die Italienreise nach und nach auch ein Organisationszweig des Vergnügungstourismus wurde. In trivialerer Form, nämlich als Einkaufsparadies, blieb Italien weiterhin mit der Schönheit und dem Geschmack verbunden.

Mit der Begeisterung für Italien ist es vorbei

Nirgendwo konnte der deutsche Reisende so exquisite Modeartikel kaufen, Möbel, Stoffe, Zierat aller Art, der dem Leben, der Person und seiner Wohnung einen Schimmer von Eleganz und Zauber verlieh. Ja, noch die banalen Schlager, die in den fünfziger Jahren von Sorrent oder Bella Napoli, von Capri oder dem Hafen von Adano als Sehnsuchtsort handelten, wo rote Lippen, rote Rosen und roter Wein zum Lebensfest einladen, waren ein letzter Nachhall von Wilhelm Heinses Phantasien aus der Goethezeit über südlich-freies Leben in Schönheit unter einem gnädigen Himmel, der sein Licht über dem großen Abenteuer beseligender Liebe leuchten läßt. 

In den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts war die Begeisterung für Italien durchaus noch nicht ganz erloschen. Die italienische Kultur gehörte ganz selbstverständlich zum deutschen Gemütshaushalt, nicht nur die längst historische, sondern auch die Musik, die Kunst, die Literatur der Gegenwart und vor allem der Film, dessen Bilder und Geschichten „mitten aus dem Leben gegriffen“ der Tourist auf den Spuren von Sophia Loren und der Lollo in Neapel auf dem Toledo oder in Rom rund um die Piazza Navona suchte.

Außerdem veränderte nun die italienische Küche die deutschen Lebensgewohnheiten. In der Tradition der Deutschrömer bis zurück zu Johann Joachim Winckelmann und Raphael Mengs vor Goethe gab es noch vereinzelte Künstler, die sich von Italien nicht zu trennen vermochten: Marie Luise von Kaschnitz-Weinberg, Ingeborg Bachmann oder Hans Werner Henze. Für sie bedeutete Italien im Sinne Goethes eine geistige Wiedergeburt, ein umfassendes Bildungserlebnis.

Damit ist es nun endgültig vorbei. Italien ist fast ganz aus dem deutschen Bewußtsein verschwunden, ausgerechnet im Zuge der sogenannten Europäisierung. Es ist weiterhin ein wichtiges Reiseziel, um am blauen Meer in der Sonne zu baden, doch schon das Essen und Trinken bieten keine Überraschungen. Zum Einkaufen gibt es weiterhin vielfache Möglichkeiten, aber es gibt nichts, was ein Münchner daheim nicht auch fände. Die Monumente werden brav fotografiert und als effektvolle Kulisse beachtet. Ein Leben auf den Straßen und Plätzen haben indessen alle deutschen Städte zugelassen, die bei den ersten Sonnenstrahlen so tun, als lägen sie am Mittelmeer.

Die Geschichte Italiens ist so fremd geworden wie die der Antike. Die Lira gibt es nicht mehr, und damit auch keine Schwierigkeiten, dauernd umrechnen zu müssen, ob das Preis-Leistungs-Verhältnis auch stimmt. Kurzum, Italien spielt keine Rolle mehr als geistiges Phänomen. Es ist bar jeder Poesie für die neuen Deutschen. Sie ahnen gar nicht, was sie an Italien verloren haben, ohne das sie gar nicht geworden wären, was sie einmal waren. Europäischer sind italienvergessene Deutsche darüber nicht geworden. 

Fotos: Ansicht der Via Toledo in Neapel, Gemälde von Giacinto Gigante (1806–1876): Macht des Kunstschönen; Goethe in der Campagna, Gemälde von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, 1787; Schauspielerin Gina Lollobrigida auf der Piazza Navona in Rom, 1966: Auf Momente wie im Paradies hoffen