© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/16 / 18. November 2016

„Evolutionärer Humanismus“
Religion ohne Gott
Lutz Sperling

Evolutionärer Humanismus – der Begriff klingt nach Wissenschaft und Humanität. Er ist aber eine euphemistische Bezeichnung für eine evolutionistische Anthropologie, die den Menschen als ein durch die Darwinschen Mechanismen zufällig entstandenes Tier unter anderen Tieren betrachtet. Evolutionistisch, weil die wissenschaftliche Evolutionshypothese weit ins Weltanschauliche hinein überdehnt wurde. Schon Charles Darwins Sicht trug eugenische und rassistische Züge. Er erwartete die Ausrottung der „wilden Rassen“ durch die „zivilisierten“ und die Ausrottung der Menschenaffen und schrieb: „Der Abstand zwischen dem Menschen und seinem nächsten Verwandten wird dann größer sein, denn er wird sich einstellen zwischen dem Menschen in einem zivilisierteren Zustand, wie wir hoffen können, ähnlich dem Weißen, und einem gewissen Affen, niedrig wie der Pavian, anstelle von jenem zwischen dem Neger oder Australier und dem Gorilla.“

Den Begriff evolutionärer Humanismus prägte der Biologe und erste Generalsekretär der Unesco (1946–1948), Julian Huxley, ein Enkel von Thomas Henry Huxley, der einflußreich die Lehre Darwins verbreitete und den Ehrennamen „Darwin’s Bulldog“ bekam: „Es scheint, daß heute ein neues dominantes Ideensystem im Entstehen begriffen ist, das ich ‘evolutionären Humanismus’ nennen will.“ Das sagte er 1962 in London in dem einleitendem Referat „Die Zukunft des Menschen – Aspekte der Evolution“ auf dem berühmten und berüchtigten Ciba-Symposium „Man and his future“ mit sechs Nobelpreisträgern unter den 27 Teilnehmern.

Es enthält wie in einem Brennspiegel wesentliche, bis heute wirkmächtige Züge des evolutionären Humanismus. Die sich als Elite sehenden Symposiumsteilnehmer, Spitzenforscher verschiedener mit der Evolution befaßter Wissenschaften, meinten, daß die bislang unbewußt verlaufene Evolution mit dem Menschen in eine neue Phase eingetreten sei, in der der Mensch sie kraft seiner Vernunft bewußt steuern könne und müsse, wozu sie sich selbst berufen glaubten. Menschheits-Experimente sind aber höchst gefährlich, weil nicht wiederholbar.

Daß – zunächst nur theoretisch – über die Möglichkeit, Menschen mit äffischen Greifschwänzen oder ohne Beine für lange Raumflüge zu züchten, nachgedacht wurde, ist recht bekannt und erscheint heute eher als eine längst überwundene, nicht mehr ernst zu nehmende Verrücktheit. Dabei wird häufig vergessen, daß in gleichem Geist für die nahe Zukunft realistischere Pläne erörtert wurden, die heute in erschreckendem Ausmaß weltbestimmend sind.

Julian Huxleys Ziel waren gemäß dem Referat genetisch „hochwertige“ Menschen, deren begrenzte Anzahl eine möglichst große Erfüllung zuläßt, also das größtmögliche Glück für so viele wie möglich. Dabei störte ihn eine drohende Bevölkerungsexplosion aufgrund einer hochentwickelten medizinischen Wissenschaft. Heute weiß man dagegen, daß das Wachstum der Menschheit im 21. Jahrhundert seinen Höhepunkt überschreiten und daß auch aufgrund der falsch regulierten Geburtenzahlen eine weltweite Überalterung mit dramatischen Folgen eintreten wird.

Huxley empfahl eine Bevölkerungs­politik der sich „einem einheitlichen System der Selbstregierung“ unterwerfenden Welt, Überwindung einer großen Zahl „moralischer, ideologischer und religiöser Widerstände“, „einfache und brauchbare Verfahren der Geburtenkontrolle“ und Überwachung der demographischen „Kreditwürdigkeit von Empfängerländern“ hinsichtlich der Mittel zur „Verminderung des Bevölkerungsüberschusses“. Empfängnisverhütungsmittel im Salz, ein Fortpflanzungsverbot für die 20 Prozent genetisch „minderwertigsten“ Menschen, Erlaubnisanträge für das Zeugen von Nachwuchs, Besteuerung von Kindern, Herbeiführen einer „Situation, in der die Menschen normalerweise unfruchtbar sind und etwas Besonderes tun müssen, wenn sie bei bestimmter Gelegenheit fruchtbar werden wollen“ – solche politischen Hebel wurden freimütig im Plenum diskutiert.

Solcherart Herr des Problems der Quantität der Menschheit, könnte man nach Huxley im Hinblick auf ihre Qualität den „Pegel der allgemeinen Intelligenz“ durch „eugenische Selektion“ anheben. Wenn man nur die „hochwertigen Individuen“ ermutigen würde, mehr Kinder zu zeugen, verliefe die gelenkte Evolution viel zu langsam, weshalb er „Vielfachbefruchtung durch tiefgekühlten Samen ausgewählter Spender“ empfahl. Die Schamfrist der Deutschen wegen der SS-Einrichtung „Lebensborn“ mußte ihn ja nicht scheren, und der traditionelle Familienbegriff scherte ihn noch weniger.

Welche Art Erfüllung des Menschen hatte Julian Huxley im Sinn? Eine durch das Ringen um Erkenntnis und um das Gute offenbar nicht. Denn er wollte uns davor bewahren, „zu glauben, daß es so etwas wie ‘Wahrheit’ oder ‘Tugend’ wirklich gibt“.

Welche Art Erfüllung des Menschen hatte er dann aber im Sinn? Eine durch das Ringen um Erkenntnis und um das Gute offenbar nicht; denn er wollte uns davor bewahren, „zu glauben, daß es so etwas wie ‘Wahrheit’ oder ‘Tugend’ wirklich gibt“. Das, was mit Erfüllung tatsächlich gemeint ist, kann hier nur durch einige Begriffe aus dem Referat angedeutet werden: Psychotechnik, Joga, Hypnose, Traum, Tanz und Besessenheit, Beeinflussung der Psyche durch Drogen, elektrisches Glück (durch „elektrische Reizung eines bestimmten Hirnbereiches überwältigende Gefühle des Glücks oder des Wohlbefindens im ganzen Organismus auslösen“). Die Erziehung solle, beaufsichtigt durch einen Erziehungsrat, „zur Umformung der traditionellen Kultur beitragen“.

In Deutschland ist die Förderung des evolutionären Humanismus erklärtes Ziel der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs). Michael Schmidt-Salomon, ein wichtiger Vordenker dieser Stiftung, vertritt mit seinem Anpreisen eines ungehemmten Hedonismus tatsächlich authentisch den evolutionären Humanismus. Jeder Mensch solle seine sexuellen Vorlieben frei ausleben können und habe ein Recht auf Rausch. Anstelle der Familie plädiert er für Lebensgemeinschaften beliebig vieler „Gesellschafter“ beliebigen Geschlechts. Gemäß einem Leitantrag auf ihrem 29. Bundeskongreß in Würzburg versteht zum Beispiel die Grüne Jugend unter Familie neben anderem „auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit oder ohne Kind“ und „polygame Lebensgemeinschaften“. Aktuell geht die Forderung der Grünen-Bundespolitiker Volker Beck und Katja Dörner nach Rechten und Pflichten für bis zu vier Eltern durch die Medien. Politische Gegenwehr in den anderen Parteien ist rar, konsequent nur in der AfD.

Zur Erziehung der Kinder empfahl seinerzeit Huxley, sie solle ihnen „helfen, die Möglichkeiten des eigenen Körpers zu entdecken“, aber natürlich auch „Schönheit und Kunst“. Heute rollt eine Lawine von Maßnahmen zur Belästigung unserer Kinder durch „sexuelle Vielfalt“, die sie nicht nur passiv erfassen sollen, vom Krippenalter an durch die Bundesländer.

Eugenik und Erziehung sollen also den Menschen evolutionsfördernd konditionieren. Da Huxley in Gott „eine vom Menschen erdachte Hypothese“ sah, gab es für ihn keine Instanz, vor der er sich zu verantworten hätte. Wer sich zudem selbst an die ethischen Grundsätze, die in vielen menschlichen Kulturen beeindruckend übereinstimmen, nicht gebunden sieht, muß zwangsläufig irrational entscheiden, wie es C. S. Lewis schon in den vierziger Jahren gesehen hat: „Der Vererbung, der Verdauung, dem Wetter und der Gedankenassoziation werden die Motivierungen der Konditionierer entspringen.“

Ganz entsprechend würdigt die Gior­dano-Bruno-Stiftung aus atheistischem Vorurteil den christlichen Glauben herab. Anstelle des biblischen Dekalogs bietet ihre Netzseite „Die Zehn Angebote des evolutionären Humanismus“, in deren erstem es heißt: „Diene weder fremden noch heimischen ‘Göttern’ (die bei genauerer Betrachtung nichts weiter als naive Primatenhirn-Konstruktionen sind), … Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt, braucht keine Religion!“ Besonders Schmidt-Salomon tut sich mit entsprechenden textlichen und bildlichen Angeboten für Kinder hervor. In einem Kinderbuch belehrt er sie: „Der Gottesglaube auf dem Globus ist fauler Zauber, Hokuspokus. Rabbis, Muftis und auch Pfaffen sind wie wir nur nackte Affen.“

Der evolutionäre Humanismus wird international durch Organisationen der Uno und der EU durchgesetzt. Die diversen Aspekte dieser Weltanschauung erinnern in erschütternder Weise an die beklemmenden Visionen in „Schöne neue Welt“.

Die Politik macht mit der gbs gemeinsame Sache: Die Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichte 2008 den Essay „Die Illusion des freien Willens“ (eine naturwissenschaftlich nicht begründbare Behauptung!) des einflußreichen Beiratsmitgliedes der gbs, Franz M. Wuketits. Dort heißt es: „Unser Gehirn wurde nicht dazu konstruiert, die ‘objektive Wahrheit’ über die Welt zu erkennen, sondern bloß dafür, es seinem ‘Träger’ zu ermöglichen, sich halbwegs in ihr zurechtzufinden und erfolgreich durchzumanövrieren.“ „Bleibe möglichst lange am Leben und sorge für deine Fortpflanzung!“ Das sei grundlegender biologischer Imperativ. „Unsere ‘äffische’ Natur ist nicht zu beschwindeln.“

Der evolutionäre Humanismus dieser Art beherrscht die gängigen Medien und die Schulbildung. Entsprechend heißt es in dem verbreiteten Schulbuch „Evolution“ (Schroedel-Verlag): „Demzufolge besteht die Funktion unserer Sinnesorgane und unseres Gehirns nicht darin, die Welt zu verstehen, sondern darin, in ihr zu überleben und erfolgreich Nachkommen zu produzieren.“ Es wird dort eine „biologische Definition“ für die menschliche Kultur empfohlen, die „den von der abendländischen Philosophie behaupteten Gegensatz zwischen den Begriffen ‘Natur’ und ‘Kultur’“ aufhebe. Darwins Vermutung, daß „die Verschiedenheit an Geist zwischen dem Menschen und den höheren Tieren nur eine Verschiedenheit des Grads und nicht der Art“ sei, sei bestätigt worden.

Der evolutionäre Humanismus wird international durch Organisationen der Vereinten Nationen und der EU, in Deutschland durch Ministerien und angegliederte Bundeszentralen sowie den Verein Pro Familia durchgesetzt. Ein vorrangiges Ziel ist die Förderung der sogenannten reproduktiven Gesundheit als angeblichen Menschenrechts, wozu wesentlich alle Verhütungsmittel und das barbarische Töten von Kindern im Mutterleib gehören. Im Vormarsch sind alle denkbaren bioethischen Tabubrüche. Die diversen Aspekte dieser Weltanschauung erinnern in erschütternder Weise an die beklemmenden Visionen von Aldous Huxley, dem Bruder Julians, in seinem 1932 erschienenen Roman „Brave New World“.

Offensichtlich profitiert auch die Gendertheorie vom evolutionären Humanismus; sie harmoniert bestens mit ihm, wenngleich er nicht ihre einzige Quelle ist. Sie wird als Gender Mainstreaming von Politik und Medien durchgesetzt, oft nur als Gleichberechtigung der Frau verstanden und von der Mehrheit der hinters Licht geführten Wähler wenig beargwöhnt; in den Hochschuleinrichtungen wird ihre umfassendere Variante Gender Studies entwickelt. Dort wird Tacheles geredet. Radikales „Queering“, „Unterminieren“ der bestehenden Verhältnisse, „subversives Potential“, Verunsicherung, „Entnaturalisierung von Geschlecht“, „Machtgewinn“ und dergleichen charakterisieren diese nach einem Text der Freiburger Gender-Professorin Nina Degele (JF 48/13). In einem Text der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung spricht Uwe Sielert, Professor für Sozialpädagogik an der Universität Kiel, entlarvend von „Gender Mainstreaming als momentan konsensfähigem Motor der Veränderung“.

Tragischerweise dringt die von Papst Franziskus „dämonisch“ genannte Gender­ideologie zunehmend sogar in katholische Einrichtungen ein. Stellvertretend seien hier der von einer Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz an den Bischöfen vorbei im Herbst 2015 verbreitete Handzettel „Geschlechtersensibel – Gender katholisch gelesen“ und entsprechende auf der Netzseite der Katholischen Jungen Gemeinde publizierte Texte genannt. Der Kampf der Kirche gegen die Abtreibung ist in Deutschland immer noch durch die viel zu lange Mitwirkung im staatlichen Beratungssystem geschwächt.

Von beträchtlichem Einfluß bei Theologen und in der Akademiker-Arbeit ist bis heute die dem evolutionären Humanismus verwandte evolutionistische Weltanschauung des Jesuiten Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955), der die Menschheit biologistisch sah und „Gas menschlicher Partikel“ nannte, der künstliche „individuelle oder kollektive Psychosen“ („Die Evolution der Verantwortung in der Welt“) und „geplante Fortschritte in unserer Erbmasse“ bejahte, der eine neue Religion aufbauen und ausbreiten und nur noch eine Synthese aus dem christlichen und dem „marxistischen Gott“ anbeten wollte. Teilhard und Huxley schätzten und zitierten sich gegenseitig. Die katholische Kirche ist von ihrer tradierten Lehre und entsprechenden großen Denkern her zum Widerstand gegen den evolutionären Humanismus zuallererst berufen. Sie sollte dieses Potential ausschöpfen.






Prof. Dr.-Ing. habil. Lutz Sperling, Jahrgang 1939, war von 1992 bis 2004 Professor für Angewandte Mechanik an der Universität Magdeburg. Nach seiner Emeritierung hielt er zwischen 2007 und 2013 regelmäßig Vorlesungen zur Naturphilosophie an der Gustav-Siewerth-Akademie in Weilheim-Bierbronnen sowie 2013 bis 2014 am Institut St. Philipp Neri in Berlin.

Foto: Neuer Turmbau zu Babel: Gott als „Hypothese“ ist Glaubenssatz der evolutionistischen Anthropologie