© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/16 / 18. November 2016

Letzter Vertreter der alten Ordnung
Mit dem Tod des österreichischen Kaisers Franz Joseph I. endete vor hundert Jahren nicht nur die längste Regentschaft Europas, sondern eine ganze Epoche
Eberhard Straub

Stand man vor ihm, hatte man das Gefühl, nicht einem menschlichen Wesen, sondern vielmehr einem höheren Symbol gegenüberzustehen, einer verkörperten Idee, die er in der Tat versinnbildlichte, der monarchischen Idee.“ Diesen Eindruck hielt Graf Emerich Czáky 1957 in seinen Erinnerungen fest. Er hatte Kaiser Franz Joseph – vor hundert Jahren am 21. November 1916 gestorben – zum ersten Mal 1905 gesehen hatte. „Er war in erster Linie stets und in jeder Lebenslage Herrscher bis zur Vollkommenheit, unpersönlich bis zur Selbstverleugnung, nicht aus Neigung, sondern aus einem tief gefühlten Pflichtgefühl heraus, welchem er sein im Grunde ganz anders beschaffenes Wesen unterordnete.“ 

Der letzte kaiserlich-königliche Außenminister Österreich-Ungarns charakterisierte prägnant Kaiser Franz Joseph als einen Monarchen, der es unbedingt als seine Aufgabe ansah, ganz und gar zum Ausdruck des überlieferten Herrscherideals zu werden. So begriff sich der Kaiser selber. In einem Gespräch mit dem Präsidenten Theodore Roosevelt in Wien 1910 nannte er sich den letzten Repräsentanten des alten Systems, während der Amerikaner für ihn die neue Bewegung verkörpere. Zum monarchischen System mit seiner Erbfolge gehörte Stabilität, veranschaulicht durch die Krone und die königliche Würde, die über der Zeit stehen. Die modernen Massendemokratien hingegen befinden sich in dauernder Unruhe, da deren Parteien immer in Bewegung sind, Bewegungen bleiben müssen im Wechsel der Zeiten. 

In der Tradition der herkömmlichen Monarchie galt daher Herrschen mehr als Sache der Einbildungskraft als des bloßen Verstandes, um alles rein Menschliche, Zufällige und allzu Eigenartige in formaler Disziplin überwinden zu können. Denn Herrschen meint nicht ununterbrochene Aktivität oder mit energischem Faustgriff, die Macht an sich zu reißen. 

Herrschen heißt sitzen, auf dem Thron, auf der sella curulis im römischen Senat oder auf dem Heiligen Stuhl. Der Staat hängt mit dem status zusammen, mit einem möglichst ungestörten Gleichgewicht der Meinungen und Kräfte, das stabilitas, Stabilität gewährt. Dieses Gleichgewicht symbolisieren die Krone und deren Träger. Deshalb ward nicht in Voraussicht lauter Herrschergrößen Erbrecht eingeführt in Reich und Staat, wie Grillparzers Kaiser Rudolf im „Bruderzwist im Hause Habsburg“ 1848 während der Revolution zu bedenken gab. „Vielmehr nur: weil ein Mittelpunkt vonnöten, / Um den sich alles schart, was gut und recht / Und widerstrebt dem Falschen und dem Schlimmen“. 

Diesen Überlegungen vertrauten die übrigen Monarchen nicht mehr. Die meisten unter ihnen erlagen zögernd oder widerstandslos den allerneuesten Glücksverheißungen des erfolgreichen Humanismus, sich nämlich unverdrossen zur originellen, authentischen Persönlichkeit zu bilden und als solche im Zeitalter des Interessanten die Krone interessant zu machen und das Publikum exquisit zu unterhalten. Solche sehr persönlichen Heilsversprechen standen im Widerspruch zur überpersönlichen Krone. 

68 Jahre Regentschaft ohne Autoritätsverlust

Unweigerlich wurden Könige zu sehr modernen problematischen Naturen, wie Goethe diejenigen nannte, die ihrer Lage nicht mehr gewachsen sind und deshalb im inneren Widerstreit mit sich ihr Leben angestrengt verzehren. Elisabeth, die Frau des Kaisers, war eine solch modisch Nervöse und Zerrissene, allein beschäftigt mit ihrer Selbstverwirklichung als reitende, fechtende, turnende oder dichtende Schönheit, unermüdlich auf der Suche nach Sensationen und Abwechslungen, die sie bald enttäuschten und zum Opfer der ganz neuen Zeiterscheinung, der Langeweile machten, weil die aufgeregte Lebensgier  ihren leeren Seelenraum nicht zu füllen vermochte. Der Kronprinz Rudolf, ganz der Sohn seiner Mutter, setzte seinem Leben frühzeitig selbst ein Ende, einer Rolle überdrüssig, für die ihm, dem geistreichen Intellektuellen, Kraft und Phantasie fehlten. 

Die Fähigkeit, die Majestät zu repräsentieren, in der sich sämtliche Ideen vereinigten, die den Staat und die allgemeine Ordnung rechtfertigten, hat nichts mit Charisma zu tun, von dem heutige Demokraten schwärmen. Denn diese unbestimmte Eigenschaft, Massen hinter sich zu scharen und als Kommunikationstalent zu mobilisieren, setzt ein unverwechselbares Individuum voraus, immer bemüht als Einzelner mit seinen Eigentümlichkeiten andere daran zu hindern, ihn in den Hintergrund zu drängen und seine Brillanz zu entzaubern. Das Charisma gehört zum Wettbewerb, in dem über den Wert von allem und jedem entschieden wird. Ein Monarch ist der Konkurrenz entrückt, solange die Monarchie nicht um Zustimmung werben muß. Sie hat ihr Ansehen verloren, wenn über sie diskutiert und sie sich im Wettbewerb mit anderen Modellen behaupten muß. 

Kaiser Franz Joseph betrieb deshalb auch keine symbolische Politik. Daran brauchte er gar nicht zu denken, weil er Symbol war und mit ihm in allerlei bedeutungsvollen Formen der Repräsentation die Herrscheridealität mitten in der Realität erschien. Die Monarchien beruhten auf anschaulichen Wahrheiten und nicht auf Abstraktionen, über die sich nur diskutieren läßt, weshalb der Dialog und das ewige Gespräch in Demokratien so wichtig sind. Der Monarch und die von ihm repräsentierten Wahrheiten sind wie dem Wettbewerb eben auch der Diskussion, dem Wettbewerb der Meinungen und Werturteile, entrückt. 

Heutigen Demokraten fällt es sehr schwer, solche Vorstellungen noch zu verstehen, die sich den Mitteln zeitgenössischer Unterhaltung, Show, Propaganda oder Werbung, die längst auch als politische begriffen werden, vollständig entziehen. Die öffentliche Wirkung Kaiser Franz Josephs ergab sich unter Umständen schon aus seiner bloßen Gegenwart, die erbitterten Streit disziplinierend beruhigte. Seine Höflichkeit, geduldige Vornehmheit und sachliche Neutralität – sofern es nicht um das Kriegswesen und die Außenpolitik ging – ermöglichten es ihm unangefochten 68 Jahre zu regieren, ohne daß seine Autorität ins Wanken geriet. Das ist insofern erstaunlich, als er in drei unglücklichen Kriegen die Lombardei und Venetien verlor, vor allem aber aus der deutschen Staatengemeinschaft ausscheiden mußte. 

Die Niederlage von 1866 und der Verzicht auf den Ehrenrang der ältesten und vornehmsten Macht unter den deutschen Staaten veränderte sein Kaisertum. Er war der letzte Kaiser, für den Deutschland die Grundlage seiner europäischen Macht war, durchaus noch umgeben von noch nicht völlig verblaßten Erinnerungen an einen geistigen Universalismus, der einst mit der römischen Kaiserkrone verknüpft war, die Kaiser Franz I. 1806 niedergelegt hatte. 

Franz Joseph wurde zum ersten Österreicher in der langen Reihe der Kaiser aus seinem Haus. In seinem Auftreten, in seiner Haltung und seiner diskreten Natürlichkeit, wie sie einem großen Herren wohl anstand, war er nicht nur der Inbegriff der Majestät, sondern auch die Verkörperung des wahren Österreichers, ein Idealtyp, den es vor ihm gar nicht gegeben hatte. Vom Briefträger bis zum Hofrat nahm ihn sich jeder zum Vorbild, der dem Staate diente. Es liefen bald unzählige Kopien des Kaisers in der Monarchie mit dem gleichen elastischen Schritt und dem gleichen Backenbart im Nationalkostüm, dem Steireranzug, den der Kaiser auf der Jagd oder in der Sommerfrische trug. Alle wahrten eine freundlich-distanzierte Höflichkeit, aßen wie der Kaiser am liebsten ein Schnitzel, tranken mäßig, rauchten nur einheimische Zigarren und mißtrauten als weltkluge Praktiker wie ihr Prototyp Franz Joseph Theorien, Ideologien und Visionen. 

Franz Joseph schützte „seine Völker“ vor ihrer Regierung

Der beste Staat ist der am besten verwaltete. Eine gute Verwaltung funktioniert möglichst unauffällig und vermeidet spektakuläre Überraschungen. Die kaiserlichen Beamten und ihr Allerhöchster Hofrat hielten sich an die bewährte Erfahrung, nichts zu überstürzen, den Dingen ihren Lauf zu lassen und aktivistische Imperative zu ignorieren: „Hier rührt sich nix, hier muß was g’schehen.“ Das nannte man „durchwurschteln“, in der bescheidenen Hoffnung, alle Nationalitäten und konträren Interessen in einem Zustand gleichmäßiger, wohltemperierter Unzufriedenheit zu halten. Das gelang vorzüglich. 

Über allen Zwisten und Parteilichkeiten stand der unaufgeregte Kaiser als Bild der Einigkeit, der die auseinanderstrebenden Kräfte beisammenhielt mit Hilfe der Verwaltung und der Armee. Darauf beruhte die ungemeine Popularität des Kaisers und des Königs von Ungarn. Das Erstaunliche an der francisco-josephinischen Epoche sind nicht die inneren Konflikte und heftigen Zusammenstöße, sondern daß die Monarchie sich nicht auflöste wegen innerer Schwierigkeiten. Die meisten Zwiste ließen sich umsichtig applanieren, also beheben. Die Zeit und ich – so lautete der Wahlspruch Philipps II. von Spanien, eines Vorfahren des Kaisers. Auf die heilende Kraft der Zeit vertraute auch Franz Joseph. 

Ihm waren politische Parteien, die Massen mobilisierten, als Volksparteien auch auf die Straße gingen, verdächtig und unangenehm. Zweimal legte er 1896 sein Veto gegen die Ernennung des mit Mehrheit gewählten Karl Lueger zum Bürgermeister von Wien ein. Er hielt dessen Christlichsoziale Partei für einen Haufen von Krawallmachern und entfesselten Stammtischbrüdern.  Ein drittes Veto legte er nicht ein. Er bat den Parteiführer zum Gespräch. Beide fanden zu einem brauchbaren Kompromiß. Ein Parteimitglied, das dem Kaiser nicht allzu unangenehm aufgefallen war, sollte vorübergehend als Bürgermeister amtieren und bestätigen, daß die vollständig unerfahrene Partei tatsächlich in der Lage sei, eine Großstadt wie Wien kompetent zu verwalten. 

Sie bewies überraschend schnell, dazu fähig zu sein. 1897 durfte mit Zustimmung des Kaisers Karl Lueger endlich das Amt übernehmen, für das ihn die Wiener ohnehin als besonders tauglich einschätzten. Die Wiener waren glücklich, und Lueger mit seinen Christlichsozialen entwickelte sich sogleich zu einer zuverlässigen Stütze von Staat und Ordnung. Kaiser Franz Joseph sah sich im übrigen ein weiteres Mal darin bestätigt, daß Thron und Volk zusammengehören, um mit viribus unitis, mit vereinten Kräften, wie seine Devise forderte, partikuläre Interessen der sogenannten Eliten abzuwehren, die ihren Vorteil mit dem Gemeinwohl verwechselten. Schließlich sah er seine Aufgabe vor allem darin, seine Völker vor ihrer Regierung zu schützen. Darin liegt sein besonderes Verdienst. Seine Völker hatten während seiner Herrschaft ihre beste Zeit.






Dr. Eberhard Straub ist Historiker und unter anderem Autor des Buches „Drei letzte Kaiser. Der Untergang der großen europäischen Dynastien“ ( Berlin 1998).