© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/16 / 18. November 2016

Die Verlierer nach ihrem Sieg
Marcin Zaremba über Polen in der Nachkriegszeit
Matthias Bäkermann

Spätestens mit den Beschlüssen aus Potsdam im Juli 1945 war klar, daß Polen mit auf der Gewinnerseite des Zweiten Weltkriegs stehen sollte. Die langersehnte Oder-Neiße-Grenze wurde endlich Wirklichkeit, mit der Vertreibung der Deutschen aus den preußischen Ostprovinzen eröffnete die normative Kraft des Faktischen die Aussicht, das formal „unter polnischer Verwaltung“ stehende fremde Staatsgebiet letztlich als polnischen Siedlungsraum zu okkupieren – ein mehr als reiches Substitut für jene an die Sowjetunion verlorenen Gebiete im Osten. Im Kerngebiet Polens, dem früheren Generalgouvernement, erinnerten nur noch die wiederholt stattfindenden, fast Volksfestcharakter annehmenden Hinrichtungen von NS-Funktionsträgern oder Wehrmachtsoffizieren an die verhaßten deutschen Besatzer, die fünf Jahre dieses Land unter ihrer Knute hatten. In Krakau, ja selbst im völlig zerstörten Warschau herrschte vor allem bei jungen Polen eine merkwürdig ausgelassene Feierlaune und Hochstimmung, die sich nicht zuletzt in einem Babyboom ausdrückte.

Dieses oberflächliche Bild korrigiert der Warschauer Historiker Marcin Zaremba in seiner Habilitationsschrift nachhaltig. Darin offenbart er sehr analytisch eine bis ins Tiefste zersplitterte Gesellschaft, die nicht nur Kriegsfolgen des deutschen Rassen- und sowjetischen Klassenmordes bewältigen mußte, sondern – vor allem zwischen Stadt und Land – an gesellschaftspolitischen Strukturen der Vorkriegszeit krankte. Dazu kam die massenhafte Integration von „Menschen aus Heeresbeständen“, womit Zaremba entlassene Soldaten, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter meint, die sich nicht selten in ihrer Entwurzelung zu kriminellen Banden zusammenrotteten und plündernd, vergewaltigend und mordend das Land verheerten. 

Allgegenwärtige Not und Hunger prägten die Volkspsyche zwischen Warthe und Bug genauso wie eine lähmende Ungewißheit über Besitzstände und Grenzen, aber vor allem über die politische Zukunft, die immer mehr von den neuen Herren unter dem Sowjetstern geprägt wurde. Wie vielerorts in Europas durchdrang diese Bürgerkriegsaura auch in Polen die unmittelbare Nachkriegszeit. Leidtragende waren nicht zuletzt wehrlose Minderheiten, die noch verbliebenen Ostdeutschen oder Juden.

Marcin Zaremba: Die große Angst. Polen 1944–1947. Leben im Ausnahmezustand. Schöningh Verlag, Paderborn 2016, gebunden, 629 Seiten, Abbildungen, 49,90 Euro