© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/16 / 25. November 2016

Lieber links der Mitte
Parteipräferenz: Die „Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund“ werden weiter an Bedeutung gewinnen / Türkischstämmige tendieren in großer Zahl zur SPD
Christian Vollradt

Der Anteil der Personen mit Einwanderungshintergrund in Deutschland wächst, die Zahl der parteipolitisch gebundenen Deutschen nimmt ab. Diese gegenläufigen Tendenzen machen die aktuelle Studie zur Frage „Welche Parteien bevorzugen Zuwanderer?“ lesenswert, die der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration vergangene Woche vorgestellt hat – unabhängig davon, ob man deren Schlußfolgerung (weitere „Öffnung für Personen mit Migrationshintergrund“) teilt oder nicht. 

Im Jahr 2015 stammten laut Statistischem Bundesamt 17 Millionen in Deutschland wohnende Menschen aus einer Einwandererfamilie oder waren selbst Einwanderer, das entspricht einem Anteil von 21 Prozent der Gesamtbevölkerung. Etwa die Hälfte von ihnen besaß die deutsche Staatsangehörigkeit. Vor der Bundestagswahl 2013 zählte der Bundeswahlleiter 5,8 Millionen „Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund“. Deren politisches Gewicht als potentielle Wähler wird also bei der kommenden Wahl weiter zunehmen. Dies gilt vor allem angesichts der Tatsache, daß das mit der Reform des Staatbürgerschaftsrechts im Jahr 2000 erweiterte „Einbürgerungspotential“ noch lange nicht ausgeschöpft wurde: Fast fünf Millionen Ausländer erfüllen derzeit die Voraussetzungen für eine Einbürgerung und könnten zu Wahlberechtigten werden. Dagegen sank die Zahl der Deutschen, die Mitglied einer der sechs etablierten Parteien (CDU, CSU, SPD, FDP, Grüne, PDS/Linkspartei) sind, von 1990 bis 2015 um die Hälfte (von 2,4 auf 1,2 Millionen). 

Wie also ticken die potentiellen oder „neuen“ Deutschen, die an Zahl und damit Bedeutung zulegen, politisch? Welche Parteien bevorzugen sie? Dazu hat der Forschungsrat der Stiftungen aus seinem diesjährigen sogenannten „Integrationsbarometer“ die Parteipräferenzen von bundesweit knapp 5.400 Personen (davon 1.333 ohne Einwanderungshintergrund) herausdestilliert. Parteipräferenz bedeutet hier eine mittel- bis langfristige Bindung an eine bestimmte Partei. Das heißt nicht, daß bei der nächsten Wahl auch tatsächlich das Kreuzchen für die entsprechende Partei gemacht wird, wie es in der Sonntagsfrage erhoben wird. 

Faßt man alle befragten Einwanderer (ohne Unterscheidung der Herkunft) zusammen, bevorzugen deutlich mehr von ihnen die SPD (40,1 Prozent) als die Unionsparteien (27,6 Prozent). Damit verhält sich ihre Präferenz nahezu spiegelverkehrt zu derjenigen der angestammten Bevölkerung (siehe Grafik): Hier stehen CDU/CSU mit 40,9 Prozent in der Gunst deutlich vor den Sozialdemokraten (27,9 Prozent). Noch krasser fällt der Unterschied aus, wenn man die Herkunft der größten Zuwanderergruppe gesondert berücksichtigt. So verorten sich Türkischstämmige zu fast 70 Prozent bei der SPD, nur 6,1 Prozent tendieren zur Union. Damit rangieren die C-Parteien in dieser bedeutenden Minorität noch weit hinter Grünen und Linkspartei (siehe Grafik). Insgesamt wird deutlich: neun von zehn aus der Türkei Stammenden in Deutschland bevorzugen eine Partei links der Mitte. Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, da gerade in dieser Bevölkerungsgruppe in ganz überwiegendem Maße ein ausgeprägt traditionelles Rollenmuster vertreten und gelebt wird, das den Gleichstellungsideen und familienpolitischen Forderungen der gesamten Linken diametral zuwiderläuft. 

Hauptgrund für diese programmatische Widersprüchlichkeit dürfte die Tatsache sein, daß solche inhaltlichen Ausrichtungen eher (wenn überhaupt) sekundär sind. Entscheidend ist die traditionell als „migrationsfreundlich“ wahrgenommene Positionierung der linken Parteien (Stichwort: doppelte Staatsangehörigkeit und erleichterter Familiennachzug). 

Dramatisch gewandelt hat sich die Parteineigung der Gruppe der (Spät-)Aussiedler. Sie tendierten in den Jahren 2000 bis 2008 noch mit rund 65 Prozent zu den Unionsparteien. Dieser Zuspruch verringerte sich 2016 auf 45 Prozent. Gewachsen ist die Sympathie für die Linkspartei, die mit 11,5 Prozent auf Rang drei hinter der SPD (25,6 Prozent) liegt. Hier verorten die Autoren der Studie auch ein wachsendes Wählerpotential für die AfD; aufgrund der längerfristigen Bezugsrahmen bei der Parteineigung sind die Daten für die noch junge Partei relativ gering.