© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/16 / 25. November 2016

Auf dem Tiefpunkt angelangt
Deutsch-türkische Kulturbeziehungen: Der Streit um das Konzertprojekt „Aghet“ nimmt kein Ende
Wolfgang Kaufmann

Der offizielle Beginn der kulturellen Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei datiert auf den 8. Mai 1957. An diesem Tage wurde das erste bilaterale Kulturabkommen unterzeichnet. Allerdings dauerte es dann bis 1999, ehe eine erste „Synergiestudie“ zu den Resultaten der Kooperation vorlag, die zudem nicht sonderlich euphorisch ausfiel. Insonderheit bemängelte die Verfasserin Heidi Wedel vom Zentrum für Türkeistudien in ihrer Bestandsaufnahme das Fehlen von Geld. Deshalb schlug sie vor, Sponsoren zu akquirieren. Das gelang auch tatsächlich in der Folgezeit. So stellte die Europäische Union ab 2006 finanzielle Mittel zur Verfügung, nachdem die Türkei ihr Interesse an der Teilnahme am Programm „Kultur 2000“ signalisiert hatte.

Als ebenso hilfreich erwies sich die Ernst-Reuter-Initiative zur Stärkung der deutsch-türkischen Zusammenarbeit in Kunst und Kultur, Politik und Medien sowie Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft. Sie wurde im September 2006 von den beiden Außenministern Frank-Walter Steinmeier und Abdullah Gül ins Leben gerufen, „um gemeinsam ein Zeichen zu setzen“. Auslöser hierfür war nicht zuletzt der Umstand, daß nur 23 Prozent der Deutschen und 33 Prozent der Türken die Beziehungen zwischen ihren beiden Ländern als positiv bewerteten.

Kurz darauf kam dann Judith Hoffmann vom Stuttgarter Institut für Auslandsbeziehungen in einer weiteren Studie mit dem Titel „Partnerschaft im Wachsen“, die auf Anregung der Robert-Bosch-Stiftung entstand, zu dem Schluß, nun habe sich die kulturelle Zusammenarbeit doch recht deutlich verbessert – wofür vor allem die Entscheidung der EU vom 11. Dezember 1999 verantwortlich sei, die Türkei zum Beitrittskandidaten zu küren.

Mittlerweile ist die damals von Hoffmann diagnostizierte Hochstimmung freilich wieder verflogen. Das liegt ganz maßgeblich an dem verbissenen Streit um Projekte, welche den türkischen Massenmord an rund 1,5 Millionen Armeniern in den Jahren 1915/16 thematisieren. So gab es bereits 2014 massive atmosphärische Störungen, als die Dresdner Sinfoniker das Stück „Dede Korkut – Die Kunde von Tepegöz“ auf die Bühne brachten. Denn darin ging es nicht nur um traditionelle zentralasiatische Mythen, sondern auch um den späteren, höchst rabiaten Umgang der Türken mit Minderheiten wie Armeniern und Kurden.

Trotzdem trat die Türkei im selben Jahr dem EU-Programm „Kreatives Europa“ bei, in dessen Rahmen die internationale kulturelle Zusammenarbeit bis 2020 mit insgesamt 1,46 Milliarden Euro bezuschußt werden soll – wovon zahlreiche türkische Künstler profitierten und noch weiter hätten profitieren können. Doch Ankara hielt es für ratsamer, das entsprechende Abkommen Anfang Oktober dieses Jahres einseitig aufzukündigen.

Anlaß hierfür war ein weiteres Konzertprojekt des Dresdner Sinfonieorchesters für zeitgenössische Musik mit dem Titel „Aghet“ – dem armenischen Wort für „Katastrophe“, mit dem der Genozid von 1915/16 umschrieben wird, wenn die an sich noch treffendere Bezeichnung „Medz Yeghern“, also „Großes Verbrechen“, inopportun erscheint. Das dreiteilige Stück entstand auf Initiative des Intendanten des Klangkörpers Markus Rindt sowie des deutsch-türkisch-armenischen Komponisten und Gitarristen Marc Sinan und erlebte seine Uraufführung im November 2015 auf der Bühne des „Radialsystem V“ in der Berliner Holzmarktstraße.

Der Regierung in Ankara war „Aghet“ natürlich von Anfang an ein Dorn im Auge. Deshalb intervenierte sie im März 2016 bei der Exekutivagentur für Bildung, Audiovisuelles und Kultur der EU-Kommission (EACEA) und verlangte ultimativ, die finanzielle Förderung des Armenien-Stückes in Höhe von 200.000 Euro einzustellen. Dabei drohte die Türkei nicht nur mit einem Ausstieg aus dem Kulturprogramm der Europäischen Union sondern auch mit dem Abbruch der Beitrittsgespräche.

Hieraufhin begann ein ziemlich unwürdiges Spiel: Zuerst entfernte die Brüsseler Agentur die Projektbeschreibung von ihrer Internetseite, dann stellte sie diese einige Zeit später wieder online – nun aber versehen mit dem Hinweis, daß sich die EU-Kommission von dem Text distanziere und der selbige ganz allein die Sichtweise der involvierten Künstler wiedergebe. Parallel hierzu wurde hinter den Kulissen Druck auf das Dresdner Orchester ausgeübt, in seinen schriftlichen Verlautbarungen über das Musikwerk künftig auf das Wort „Genozid“ zu verzichten.

Das führte hierzulande zu heftigen Reaktionen. So mahnte der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann: „Es ist nicht die Aufgabe der Kommission, sich in künstlerische Prozesse einzumischen.“ Und der Komponist Sinan sprach gar von „Appeasement“ seitens der EU, durch welches diese zum „Mittäter“ werde.

Trotz des Ausstiegs der Türkei aus dem Programm „Kreatives Europa“ sollte aber am 13. November eine deutlich entschärfte Fassung von „Aghet“ – ohne das Stück „Massaker, hört Ihr, Massaker! (an: Recep Tayyip Erdogan)“ von Helmut Oehring – im deutschen Generalkonsulat in Istanbul aufgeführt werden. Als Gäste erwartete man auch den türkischen Präsidenten sowie Premier Binali Yildirim, Außenminister Mevlüt Çavusoglu und Kulturminister Nabi Avci. Allerdings fiel diese Vorstellung dann kurzfristig ins Wasser, weil das Auswärtige Amt in Berlin mitteilte, daß die Räumlichkeiten in der Stadt am Bosporus an dem bewußten Tage „nicht zur Verfügung“ stünden. Zudem bemängelte die im Vorfeld informierte Steinmeier-Behörde plötzlich: „Einladungen zu der Veranstaltung sind ohne Beteiligung des Auswärtiges Amtes erfolgt.“

Im Gegensatz zu den Dresdner Sinfonikern, die diese Absage kritisierten, erschien sie manchen deutschen Politikern als alternativloser Akt der Vernunft, der verhindere, daß sich das Verhältnis zwischen Berlin und Ankara noch weiter verschlechtere. Andere sahen darin hingegen eine kleinmütige Unterwerfungsgeste gegenüber der Türkei, welche dem Autokraten Erdogan zusätzlichen Auftrieb verleihen werde. Auf jeden Fall aber befinden sich die deutsch-türkischen Kulturbeziehungen nun auf dem bisher tiefsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg.