© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/16 / 25. November 2016

Zeitschriftenkritik: Der blaue Reiter
Wir, die Anderen und die Toleranz
Werner Olles

In seiner elften und letzten Feuerbachthese „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern“, versuchte Karl Marx 1845 der Philosophie die Theorie auszutreiben. Mit der Praxisrelevanz in der Philosophie hapert es jedoch bis heute. Grundsätzliche philosophische Fragen kollidieren mit evolutionsbiologischen Erklärungen, da hilft Freuds Deutung der Angst vor dem Fremden als lediglich äußere Manifestation innerer Ängste wenig.

Siegfried Reusch, Chefredakteur des zweimal jährlich erscheinenden Journals für Philosophie Der blaue Reiter, versucht in seinem Editorial der aktuellen Ausgabe (Nr. 39) das Schwerpunktthema „Der Andere, der Fremde“ und die Problematik der Überfremdung von der tagespolitischen Ebene auf ein philosophisches Niveau zu heben. Dabei gelingen ihm bemerkenswerte Überlegungen, wenn er beispielsweise betont, daß wir das Fremde geradezu existentiell benötigen, um uns selbst zu verstehen. Reusch zitiert Carl Schmitt, der keinen Zweifel daran lasse, daß es nur um eins ginge: „Wir oder die Anderen“, da Schmitt von der gemeinschaftstiftenden Funktion des Feindes überzeugt gewesen sei. Für Reusch kommt hier das Reizwort „Toleranz“ als Tugend des öffentlichen Vernunftgebrauchs ins Spiel. Nietzsche verstand jedoch Toleranz als „urteilslose Beliebigkeit“, Immanuel Kant als „hochmütig“ und Johann Wolfgang von Goethe gar als „beleidigend“. Der Autor beharrt dennoch darauf, daß Toleranz nur Schwäche bedeute, wenn sie obrigkeitsstaatlich verordnet werde.

Über die Dialogphilosophie Martin Bubers schreibt der Religionsphilosoph Christian Jung. Als die großen Gegenstände der Philosophie bis ins 19. Jahrhundert nennt er Seele, Welt und Gott. Was bis dahin gefehlt habe, sei jedoch ein wesentliches Moment des Lebens: die persönliche Begegnung mit anderen Menschen. Für Buber sei daher die Dialogizität des Menschen letzten Endes religiös begründet. Jedoch betone er, daß Personalität lediglich eines von Gottes zahllosen Attributen, seine dem Menschen zugewandte Seite, nicht aber sein Wesen sei. Diese dialogphilosophische Variante der negativen Theologie wird aber letztlich nur vor dem Hintergrund der jüdischen Mystik verständlich. 

Der Publizist Thomas Jung setzt sich mit Georg Simmels Idee einer „Kulturumarmung“ auseinander und läßt dabei eine verblüffende Naivität erkennen. So liegt für den Autor der elementare Irrtum darin, „daß die Fremdheit immer noch als eine exterritoriale Eigenschaft verstanden wird“, dabei seien doch das Eigene und das Fremde eng miteinander verflochten. Im World Wide Web verlören sich die Differenz vom Eigenen und Fremden, und kehre wieder, was die alte Dorfkultur auszeichnete: Gemeinschaftssinn, geschlossene Gemeinschaftsidentität: „Das Fremde, und damit auch das Eigene, verschwindet in einer globalen Welt, die sich zu einem telepathischen Kristallpalast entwickelt.“

Kontakt: Verlag für Philosophie, Göttinger Chaussee 115, 30459 Hannover. Das Einzelheft kostet 16,90 Euro, ein Jahresabo 27,90 Euro.

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