© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/16 / 25. November 2016

Vom Reichtum der Worte und Zeichen
Gesprochen, geschrieben, gebärdet oder getastet: Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden beschäftigt sich mit dem Phänomen der Sprache
Paul Leonhard

Eine alte Frau schiebt ihren Rollator vor sich her und spricht dabei zu sich selbst. Offenbar ärgert sie sich über den holprigen Gehweg vor dem Deutschen Hygiene-Museum Dresden. „Hansa Fans töten“ haben Anhänger von Dynamo Dresden auf eine Wand gesprüht, ohne sich offenbar der Doppeldeutigkeit dieser Worte bewußt zu sein. „Wir sind das Volk!“, riefen nur unweit von hier die Dresdner im Herbst 1989, und viele tun es gerade allmontag-lich wieder, weil die Politiker sprachlos sind oder nur Phrasen dreschen, während die Medien zwar noch sprachgewaltig sind, aber ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt haben.

Es ist die richtige Zeit für eine Ausstellung über die Sprache, über die Welt der Worte, Zeichen und Gesten. Im Auftrag des Hygiene-Museums und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt haben sich Wissenschaftler mehrere Jahre mit Sprache und Dichtung beschäftigt und damit, wie es möglich ist, das „flüchtige Wort“ in eine Ausstellung zu bannen. Entstanden ist auf 800 Quadratmetern eine sehenswerte Schau, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen für den Reichtum empfänglich macht, der mit den Erscheinungsformen von Sprache in allen Lebensbereichen verbunden ist, von der Literatur bis zum Jugendslang.

Unabhängig davon, ob sie gesprochen oder geschrieben, gebärdet oder getastet wird, Sprache ist grundlegend für das menschliche Selbstverständnis. „Wie sehr uns Sprachen prägen, erfahren wir, wenn wir nach längerer Zeit wieder in den Kosmos der Dialekte unserer Kindheit eintauchen“, sagte Klaus Vogel, Direktor des Hygiene-Museums Dresden, bei der Ausstellungseröffnung. Der eigene Dialekt verkörpere Identität, Zugehörigkeit, Heimat.

Aber wieso spricht der Mensch eigentlich und seit wann? Homo loquens ist die lateinische Bezeichnung für den sprechenden Menschen. Und dessen zentrales Merkmal, die Sprache, ist auch eines der rätselhaftesten, denn von ihrer Entstehung existieren keine handfesten Spuren. In vielen Mythen ist der Ursprung der Sprache eng mit der Schöpfung der Welt und des Menschen verknüpft. „Auch wenn wir wohl niemals genau wissen werden, wann, wo und wie wir zu den Worten kamen, können Forschungen aus zahlreichen Disziplinen die komplexen biologischen und soziokulturellen Geflechte im Prozeß der Sprachaneignung beleuchten“, heißt es im ersten Themenkomplex der Schau, der „Homo loquens. Zur Sprache kommen“ überschrieben ist.

Sprache als Macht- und Kontrollinstrument

Klar sind dagegen die anatomischen und neurophysiologischen Grundlagen für das Sprechen. Neben Sprachmythen wird die Stellung der Gestik innerhalb der Evolution der Sprache beleuchtet, ihr Verhältnis zur Lautsprache und Kognition und ihre Rolle im kindlichen Spracherwerb. Mit metaphorischen Redeweisen, Sprachbildern also, beschäftigt sich der Themenkomplex „Denkbewegungen. Sinn und Sinnlichkeit der Sprache“. Das bildhafte Sprechen, bei dem Wörter nicht in der eigentlichen Bedeutung, sondern in einer übertragenen verwendet werden, macht das Gesagte einprägsam: „vor Wut kochen“, „auf den Zahn fühlen“, „Schnee von gestern“.

Es geht aber auch um Raum und Zeit, denn simple Worte wie „ich“, „hier“ oder „jetzt“ sind mit komplexen Vorstellungen verbunden. „Neben den Kategorien von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verleihen Rhythmus und Tempo unserem Sprechen Bedeutung. Wir wohnen buchstäblich in der Sprache“, haben die Wissenschaftler notiert.

Gegenwartsbezogen ist der dritte Teil der Schau: „Redehandwerk. Macht und Magie der Sprache“. Er dreht sich um Sprache als Macht- und Kontrollinstrument, um politische Parolen, Werbeslogans, auch um die performierte Rede, mit der Rituale ihre Wirkkraft entfalten. Sprachlosigkeit wird ebenso thematisiert wie sprachliche Eskalation. Sprüche wie „Das wird man wohl noch sagen dürfen“ würden viel über das Klima in einer Gesellschaft aussagen und meistens sprachliche und gedankliche Tabubrüche einleiten, so Museumschef Vogel.

Spuren aktuell aufgeladener Begriffe wie „Lügenpresse“, „Wir sind das Volk!“ und „Flüchtlingswelle“ sind die Kuratoren nachgegangen. Erstere stammen aus den Zeiten der frühbürgerlichen Revolution. So dichtete Ferdinand von Freiligrath in seinem berühmten „Trotz alledem!“ im Juni 1848 „Wir sind das Volk, die Menschheit wir“. Vorläufer des Begriffs „Flüchtlingswelle“ fanden sich in Zeitungen von 1973, in denen getitelt wurde: „Gastarbeiterwelle gestoppt“. Wie Migration und Globalisierung Sprachen verändern, untersucht der vierte Komplex „Sprachheimat(en). Zugehörigkeit und Selbstbestimmung“. Dabei wird auch nach Antworten auf die Frage gesucht, was wir in hundert Jahren sprechen.

Um die Vielschichtigkeit, schöpferische Kraft und Schönheit der Sprache darzustellen, gibt es neben kultur- und wissenschaftshistorischen Exponaten und Dokumenten, Filmen und zeitgenössischen Kunstwerken zahlreiche interaktive Stationen. Sie sollen dazu animieren, sich spielerisch mit sprachlichen Phänomenen auseinanderzusetzen. Außerdem bieten inklusive Angebote interessante Perspektiven und machen die Ausstellung zugänglich für Menschen mit Seh- und Höreinschränkungen oder geistigen Behinderungen. Die Ausstellungsmacher experimentieren mit auf „Gender“ bezogenen, unterschiedlichen Schreibweisen. Sprache sei nicht neutral und man wolle die Besucher ermutigen, „auch hier über Sinn und Unsinn nachzudenken“, so Kuratorin Colleen M. Schmitz.

Zu den Exponaten gehört beispielsweise ein Muskelkopf, an dem sichtbar wird, daß rund zwanzig Muskeln im Gesicht die Ausdrücke steuern, die die Sprache begleiten. Aus dem Jahr 1760 stammt eine von dem Österreicher Wolfgang von Kempelen entwickelte Sprechmaschine. Und daß auch Singvögel – ähnlich wie beim menschlichen Spracherwerb – ihren Gesang erst erlernen, demonstriert eine Serinette von 1820. Derartige Vogelorgeln wurden seit Beginn des 18. Jahrhunderts eingesetzt, um Singvögeln, die als Haustiere gehalten wurden, einstimmige Melodien beizubringen.

Am Ende seines Rundgangs weiß der Besucher, daß Sprache nicht nur Grammatik und Rechtschreibung ist, sondern auch Vielfalt und Wandel, Waffe und Heilinstrument. Sprache ist eben ein weites Feld.

Die Sonderschau „Sprache. Welt der Worte, Zeichen, Gesten“ ist bis zum 20. August 2017 im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, Lingnerplatz 1, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Ergänzt wird sie durch zahlreiche wissenschaftliche und kulturelle Veranstaltungen. Das Begleitbuch mit 280 Seiten kostet 24,90 Euro. Telefon: 03 51 / 48 46-400 

 www.dhmd.de/