© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/16 / 25. November 2016

Ein Tag im April 1945
Kraft der Erinnerung: Jochen Metzger beschreibt Schicksale in einem badischen Dorf bei Kriegsende
Felix Dirsch

Der siebzigste Jahrestag des Kriegsendes erinnerte viele Journalisten und Historiker nicht zuletzt an die nur mehr kleine Zahl der Zeitzeugen. Es eilt also, Erlebtes festzuhalten. Die umfangreiche Literatur dazu ist in jüngster Zeit noch um die Studien von Miriam Gebhardt („Als die Soldaten kamen“) und Florian Huber („Kind, versprich mir, daß du dich erschießt“) vermehrt worden, die sich bemüht haben, das kaum vorstellbare Leid der deutschen Zivilbevölkerung, insbesondere der Frauen, aufzuarbeiten.

An diese Forschungen schließt sich die belletristische Schrift von Jochen Metzger an. Auch er befragte mittlerweile ins Greisenalter gekommene Personen aus seinem Heimatdorf Graben-Neudorf nahe Bruchsal im Badischen, das im Roman Sandheim genannt wird. Aus den Gesprächen ergibt sich genug Stoff für einen ebenso einfühlsamen wie aufrüttelnden Roman, dessen bilderreiche, unpretentiös-klare Sprache besonders berührt. Dabei läßt der Autor keinen Zweifel daran, daß manches in dem Buch Geschilderte die Ereignisse beinahe detailgenau wiedergibt, anderes hingegen fiktional verfremdet ist, so auch die Namen der Beteiligten.

In 58 relativ kurzen Kapiteln behandelt Metzger das Kriegsende im April 1945 in der bis dahin vom Krieg verschont gebliebenen Provinzgemeinde mit 2.500 Einwohnern. Der Autor gibt prägnante Einblicke in den Alltag der Menschen, schildert einen Mikrokosmos von Erlebnissen. Die Front rückt vor. Schüsse und Granatensplitter kündigen das Unheil an. Nicht die erwarteten US-Amerikaner rücken heran, sondern die Franzosen, darunter nicht wenige aus den Kolonien. Vorurteile lassen nicht lang auf sich warten.

Die Kampfgeschehnisse gehen unter die Haut und werden so erzählt, daß der Leser meint, unmittelbar dabei zu sein. In der Nähe des Rheins werden die letzten deutschen Stellungen niedergerungen. Das Grauen und Gemetzel wird so realistisch wie möglich berichtet. Wiesenflächen sind mit Leichen bedeckt, die beerdigt werden müssen. Der Krieg ist offiziell vorbei, für die Zivilbevölkerung geht er jedoch in vielen Fällen weiter. Die Sieger holen sich ihre Trophäen – auch in Sandheim. Plünderungen bleiben nicht aus, Frauen werden vergewaltigt. Als Gipfel der Schmach gilt es, „Neger“-Schlampe zu sein. Das brennt sich mit Nachdruck in das Gedächtnis der Bewohnerschaft ein.

Von den Lebensschicksalen geht das der Marie, einer jungen Bäuerin Mitte Zwanzig, besonders nahe. Auch über das brave „Kirchenmädchen“ fallen die Horden her. Sie wird schwanger. Die vorgenommene Abtreibung kann sie nicht überwinden. Sie verspricht einer sterbenskranken Freundin, deren Mann nach ihrem bevorstehenden Tod zu ehelichen. Bald danach heiratet Marie tatsächlich den Witwer. An der Ehe zerbricht die Unbedarfte schließlich. Sie kehrt in ihr Heimatdorf zurück, um Suizid zu begehen.

Trotz der einfühlsamen Erzählweise ist offenkundig, daß Metzger das historische Geschehen aus gewollter Ferne betrachtet. Er erzählt nicht nur aus der Perspektive der Einheimischen. Sein Blickwinkel verbietet übermäßige Identifikationen mit den Opfern. Im Epilog heißt es, viele Bewohner hätten schlimme Fehler begangen. Diejenigen, die er beschreibt, hätten zwar alles richtig gemacht – aber nur aus „ihrer Sicht der Welt“. In dieser Einschränkung zeigt sich am deutlichsten der an Wissen überlegene Nachgeborene.

Und doch: Metzgers Buch zeigt auf eine mitunter beklemmende Weise, in welche erzählerische Dimensionen sich ein Heimatroman aufschwingen kann, wenn er den über einen langen Zeitraum hinweg stummen Zeitzeugen eine Stimme verleiht.

Jochen Metzger: Und doch ist es Heimat. Roman. Kindler-Verlag, Reinbek 2016, gebunden, 368 Seiten, 19,95 Euro