© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/16 / 25. November 2016

Aufmunterung zum Treiben
Im Sinne der Delegitimierung: Neuerscheinungen zur Debatte über Martin Heideggers „Schwarze Hefte“
Dirk Glaser

Obwohl der Anteil „explizit antisemitischer Bemerkungen am Gesamttext im Promille-Bereich liegt“ (Dieter Thomä), hat die 2014 einsetzende Veröffentlichung von Martin Heideggers zwischen 1931 und 1948 geführten Gedanken-Tagebüchern, den „Schwarzen Heften“, völlig ausgereicht, um einen der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts als „Nazi“, „Rassisten“ und „radikalen Antisemiten“ derart zu brandmarken, daß sich aus diesen Bannflüchen die Forderung ableiten ließ, ihn aus den Annalen der Philosophiegeschichte kurzum zu streichen (zuletzt JF 20/15).

Der Einbruch des Fuchses in den Hühnerstall könnte keine größere Panik verursachen als jene, die aus der Skandalisierung dieser Nachlaß-Publikation spricht. Empörung und Entsetzen sind allgemein. Günter Figal, der Vorsitzende der Heidegger-Gesellschaft, trat auf Knopfdruck zurück, eine nach dem Philosophen benannte Straße in Freiburg soll es nicht mehr geben, Tagungen im In- und Ausland gerieten zu „antifaschistischen“ Scherbengerichten. 

Bis heute schwillt der Strom der Veröffentlichungen zum Thema an. Unvermeidlich auch Skurriles mitführend wie Reinhard Mehrings „Heideggers ‘große Politik’“. Darin verficht der Autor, nachdem er auf zwei Drittel dieses Werkes ausgebreitet hat, was er sonst noch weiß zu Hölderlin, Goethe, Adorno e tutti quanti,  die These, die „Schwarzen Hefte“ seien Teil einer „Nachlaßeditionspolitik“, mit der sich der 1976 verstorbene „Denker in dürftiger Zeit“ (Karl Löwith) spätestens im 23. Jahrhundert seine geistige Wiederauferstehung habe sichern wollen.

Den oft genug ins Hysterische kippenden Aufregungen über den „Fall“ einer „späten Selbstentlarvung“ Heideggers ist aber auch die Bekanntschaft mit einem Text zu danken, der sonst vielleicht in der Schublade verstaubt wäre. Der 1991 verstorbene Bernard Willms, mit Armin Mohler, Günter Maschke, Hans-Dietrich Sander und Hans-Joachim Arndt in den achtziger Jahren einer der Meisterdenker der „Neuen Rechten“, setzt sich in den von Till Kinzel herausgegebenen Betrachtungen „Heidegger und der Antifaschismus“ mit dem „universellen Denunziationsgestus“ auseinander, der bereits die erste internationale Debatte beherrschte, die 1987 mit dem Pamphlet des Exil-Chilenen Victor Farías („Heidegger et le nazisme“) ausgelöst wurde. Willms’ Inspektion der damaligen Kontroverse ist nicht veraltet, sondern ist, wie Kinzel in seinem Nachwort betont, mit Gewinn zu lesen, um über das aktuelle, in den schlammigen „Grundstrukturen einer offiziösen politischen Korrektheit“ versunkene Debattensurrogat der „Kleingeister des modernen und postmodernen Medien- und Universitätszirkus“ aufzuklären. 

Hinter ihrem „Bollwerk des Richtigen und Guten“ 

Zuhauf versammelten solche Kleingeister sich im Frühjahr 2015 in der im nordrhein-westfälischen Bildungswunderland inzwischen zur Universität aufgestiegenen Gesamthochschule Siegen. Auf Einladung der 65jährigen Marion Heinz, die mit „Philosophischen Geschlechtertheorien“ lange gehofft hatte, den richtigen Zeitgeistzug bestiegen zu haben, die es aber erst dank „Nazi Heidegger“ ins mediale, die Siegener Tristesse etwas erhellende Rampenlicht schaffte, reiste an, wer sich beim Heidegger-Bashing bisher profiliert hatte. 

Allen voran Emmanuel Faye, der es in dieser Disziplin mit seinem gedruckten Veitstanz („Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie“, 2009) zu einiger Perfektion und zu einem Lehrstuhl in Rouen brachte. Auf der Linie von Heinz und Faye bewegen sich denn auch die meisten Referate der Tagung, die jetzt in einem dicken Suhrkamp-Taschenbuch vorliegen. Mit ermüdender Penetranz will man Heideggers Denken auf „Strukturen rechter Ideologie“ reduzieren und nachweisen, wie der Philosoph unter maximaler Anpassung an den „völkischen, eliminatorischen Rassismus der Nazis“  die Aufklärung delegitimiert, Rationalität beseitigt, den Humanismus verworfen und „die Gleichheit“ negiert habe.

Der Ideenhistoriker Silvio Vietta hat in seiner Studie über die als Globalisierungskritik brandaktuelle politische Philosophie Heideggers, der besten Analyse des Werkes, das diese Jahre des „Skandals“ zeitigten, alles über die permanent mit Unterstellungen arbeitenden, nie präzise definierenden, deshalb günstigstenfalls „abenteuerlich“ zu nennenden Deutungskünste des „geradezu von Haß getragenen“ Heinz-Kartells gesagt.   

Wer sich hingegen auf einem wissenschaftlich seriösen Niveau mit dem Hauptanklagepunkt der Anti-Heidegger-Ideologen, dem „Antisemitismus“, befassen will, greife zur theologie- und philosophiehistorisch sicher fundierten Untersuchung von Donatella Di Cesare, leider mit dem etwas reißerischen Titel: „Heidegger, die Juden, die Shoah“. Die „Schwarzen Hefte“ sind für die Italienerin keineswegs, wie vor allem Faye frohlockt, der „Grabstein für Heideggers Philosophie“, sondern können, wie dies Di Cesares Exegesen mustergültig vorführen, „nach Auschwitz“ zu einer vertieften Behandlung von „Seinsfrage und Judenfrage“ beitragen – allerdings noch immer nicht in den Tabuzonen des bundesdeutschen „Medien- und Universitätszirkus“.

Sowenig wie begriffliche Präzision, methodologische Sauberkeit und hermeneutische Sorgfalt im Umgang mit der politischen Semantik der Zwischenkriegszeit in den Reihen der Heidegger-Hasser die geringste Rolle spielen, so naiv-unkritisch, oder, um es mit einer Lieblingsvokabel dieses Lagers zu sagen, „irrational“, ist die Bezugnahme auf Denkwelten und politische Ordnungsmuster, denen man sich im stolzen Bewußtsein, auf der Seite des „Guten“ zu stehen, selbst verpflichtet fühlt: Vernunft, Aufklärung, Fortschritt, Demokratie, Menschenrechte. Also das gesamte Ensemble dessen, was ein Philosoph nach der rührenden Vorstellung des den Heinz-Band beschließenden Schweizer Psychologen Anton M. Fischer (Martin Heidegger – Der gottlose Priester. Psychogramm eines Denkers, 2008) benötigt, um „zur Förderung von Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit beitragen“ zu können.

Dieter Thomä (St. Gallen), Herausgeber des vorzüglichen „Heidegger-Handbuchs“ (2013), dem auf der Siegener Tagung wegen einiger ketzerischer Einwände gegen die „Vertreter einer pauschalen Heidegger-Kritik“ die Rolle des „Apologeten“ zufiel, wagt es in seinem Beitrag, diese primitive Kontrastierung des „Nazi-Philosophen“ mit dem „‚einfachen Bewußtsein des Wahren und Guten‘“ (Hegel), mit dem „Superlativ des besten Denkens“ in Frage zu stellen. Verschanzt hinter ihrem „Bollwerk des Richtigen und Guten“, seien die Heidegger-Ankläger auf ihrem „Hochsitz der Moral“ (Joachim Fest) offenbar unfähig, die eigene Position historisch zu reflektieren und zu relativieren. Nur darum könne etwa die Mit-Herausgeberin Sidonie Kellerer ihr Heil im vermeintlich „sicheren Hafen des neuzeitlichen Rationalismus“ suchen, der doch „jede Menge ‘Dreck am Stecken’“ habe. Wie die intellektuelle Welt außerhalb Siegens spätestens seit dem Erscheinen der „Dialektik der Aufklärung“ (1947) von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno weiß.

Wie stark das Verhältnis zur Geschichte bei den meisten Beiträgern gestört ist, ist an ihrer durchgängig abstrahierenden Rede über „die“ Vernunft oder „die“ Humanität abzulesen. Wo in seltenen Fällen einmal konkretisiert wird, unter welchen sozioökonomischen Bedingungen sich denn „Humanität“ und „Demokratie“ in den dreißiger Jahren verwirklichten, um dem deutschen „Seyns-Denker“ ein leuchtendes Beispiel zu geben, verweist ein moralisierender Eiferer wie Richard Wolin (New York) auf Roosevelts Amerika. Trotzdem ist eine in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte erschienene Variante von Wolins Siegener Klitterungen von deren volkspädagogisch gedrillter Leserschaft zum besten Aufsatz des Jahrgangs 2015 gewählt worden. 

Reinhard Mehring: Heideggers „große Politik“. Die semantische Revolution der Gesamtausgabe. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2016, broschiert, 334 Seiten, 49 Euro

Marion Heinz, Sidonie Kellerer (Hrsg.): Martin Heideggers „Schwarze Hefte“. Eine philosophisch-politische Debatte, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, broschiert, 445 Seiten, 20 Euro

Silvio Vietta: „Etwas rast um den Erdball…“ Martin Heidegger: Ambivalente Existenz und Globalisierungskritik. Verlag Wilhelm Fink, Paderborn 2015, broschiert, 222 Seiten, 24,90 Euro

Donatella Di Cesare: Heidegger, die Juden, die Shoah. Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2016, broschiert, 406 Seiten, 29,80 Euro