© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/16 / 02. Dezember 2016

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler


Adventsspaziergang am See. Die Luft ist klar und trocken, die Sonne scheint, der Himmel ist hellblau,weiß-graue Wolken ziehen ihre Bahnen. Für einen Moment nehmen sie mich mit auf ihrer Reise, fort, nur fort von den Zumutungen des Alltags. „(…) wenn ich mich müde gesehn/ an der Menschen Gesichtern,/ so vielen Spiegeln unendlicher Torheit,/ hob ich das Aug/ über die Häuser und Bäume/ empor zu euch,/ ihr ewigen Gedanken des Himmels./ Und eure Größe und Freiheit/ erlöste mich immer wieder“, heißt es in Christian Morgensterns Gedicht „An die Wolken“.


Zufällige Koinzidenz: Anregende Plauderei mit dem Schriftsteller und Naturlyriker Ulrich Schacht, der in Südschweden unweit des Kattegat lebt. Wir kommen auf die Schönheit von Landschaften zu sprechen, das Meer, die Weite des Himmels, die Wolken. Er macht mich mit „Apeiron“ vertraut. Der aus dem Altgriechischen stammende Begriff steht für „das Unendliche“, „das Unbegrenzte“.


Zu meinen frühen Kindheitserinnerungen gehören Urlaubsfahrten an die Nordsee, mal auf eine der Inseln, mal ins Hinterland. Was mich als Großstadtjunge dort mitunter am meisten faszinierte, war der weite Himmel – vor allem aber die Wolken. In ihren flüchtigen Formationen Bilder zu erkennen – Gesichter, Tiere, Gegenstände –, war ein herrlicher Zeitvertreib. Jahrzehnte später, 2004, begeisterte mich dann die im Hamburger Bucerius-Kunst-Forum gezeigte Ausstellung „Wolkenbilder. Die Entdeckung des Himmels“ mit Werken von William Turner, John Constable, Caspar David Friedrich, Jean-Baptiste Camille Corot, Jan van Goyen, August Strindberg und anderen Künstlern. Den Ausstellungskatalog nehme ich heute noch gern zur Hand, um mich in ihren Bildern zu verlieren.


Zuweilen finden nicht wir die Bücher, die uns interessieren, sondern die richtigen Bücher zur rechten Zeit finden uns. So bin ich dieser Tage zufällig über das kürzlich erschienene Buch „Wolkendienst – Figuren des Flüchtigen“ von Klaus Reichert gestolpert. Der Literaturwissenschaftler war Professor für Anglistik an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und von 2002 bis 2011 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. In seinem Kompendium nähert er sich den Wolken quer durch die Jahrhunderte hindurch von seiten der Literatur, der Bildenden Kunst, der Musik sowie anhand eigener Wahrnehmungen, festgehalten in Wolkentagebüchern. Ein empfehlenswerter Schmöker für lange Winterabende.