© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/16 / 02. Dezember 2016

Englands Hungerwaffe
„Steckrübenwinter“ 1916/1917: Die durch die Blockade verursachte Not im Ersten Weltkrieg kostete im Deutschen Reich mehr als 800.000 Menschen das Leben
Wolfgang Kaufmann

Am 4. Dezember 1916 verfügte das sieben Monate zuvor gegründete deutsche Kriegsernährungsamt die Beschlagnahme sämtlicher Vorräte an Steck- beziehungsweise Kohlrüben oder Wrucken. Diese Maßnahme resultierte aus dem Umstand, daß das wilhelminische Kaiserreich auf den Höhepunkt der Ernährungskrise während des Ersten Weltkriegs hinsteuerte, der als „Steckrübenwinter“ in Erinnerung bleiben sollte, obwohl die Hungerperiode letztendlich noch bis Mitte 1919 andauerte.

Hauptverantwortlich hierfür war die britische Seeblockade. Um die Moral der Deutschen zu brechen, die etwa ein Drittel ihrer Nahrungsmittel aus dem Ausland bezogen, hatte die Royal Navy bereits im August 1914 die Nordsee abgeriegelt. Dort wurden im Laufe des Krieges 11.800 Frachter aufgebracht oder zurückgewiesen, die Agrarprodukte, Chilesalpeter für die Sprengstoffherstellung sowie „Kolonialwaren“ an Bord hatten. 

Damit verletzte England faktisch das Kriegsvölkerrecht, denn dieses untersagte derart allumfassende Blockaden, die auch der Aushungerung der Zivilbevölkerung dienten. Aber das Empire gehörte eben nicht zu den Unterzeichnern der entsprechenden Abkommen von 1856 und 1909 – sicher in Erwartung eines künftigen Konfliktes mit dem Kaiserreich. Außerdem schloß Großbritannien dann im Herbst 1914 noch diverse Verträge mit neutralen Staaten, welche daraufhin die Lebensmittellieferungen an die Mittelmächte einstellten.

Für alles mögliche wurden Ersatzlebensmittel gefunden

Trotzdem ging die Versorgungskrise, die schon im Verlaufe des Jahres 1915 spürbare Ausmaße annahm, keineswegs nur auf das Konto Londons. Die deutsche Landwirtschaft war auch zu ineffizient, was nicht zuletzt am Arbeitskräftemangel lag: Es standen einfach zu viele Bauern an der Front. Gleichzeitig fehlten Zugtiere und Kunstdünger; dazu kamen Transportprobleme und ein absolutes Kompetenzwirrwarr zwischen der Kriegsgetreidegesellschaft, der Reichskartoffelstelle und anderen Behörden. Ebenso sorgten amtlich festgesetzte Höchstpreise dafür, daß die Landwirte ihre Feldfrüchte lieber an das Vieh verfütterten, als sie in den Verkauf zu bringen.

Infolgedessen und wegen der britischen Handelsblockade mußte verbreitet auf Ersatzprodukte zurückgegriffen werden, wie Brot aus Bucheckern und Eicheln, Pudding aus Leim oder Pfeffer aus Asche – am Ende existierten um die 11.000 solcher Lebensmittel-Surrogate. Dennoch wurde schon Anfang 1915 die Rationierung des Brotes notwendig. Und dann gab es bald auch Milch, Fett, Eier, Zucker, Mehl, Hülsenfrüchte und Teigwaren nur noch auf Lebensmittelkarten. Das gleiche galt für Fleisch, nachdem der „Schweinemord“, also die panikartige Schlachtung von fünf Millionen Tieren aus Furcht vor Futtermangel, im ersten Quartal 1915 kurzzeitig für eine Fleischschwemme gesorgt hatte. Insgesamt lag der Verbrauch deshalb Mitte 1916 schon sehr deutlich unter dem Vorkriegsniveau.

Doch es sollte noch schlimmer kommen. Da die Kartoffel nun zum Hauptnahrungsmittel avanciert war, zeitigte es katastrophale Folgen, daß der verregnete Herbst 1916 eine Kartoffelfäule verursachte, durch die der Ertrag bei der Knollenernte im Vergleich zum Vorjahr um über 50 Prozent zurückging – statt 54 Millionen Tonnen waren es nur 25 Millionen. Deshalb mußte nun im Winter 1916/17 die Kohlrübe – auch sarkastisch „Ostpreußische Ananas“ oder „Hindenburgknolle“ genannt – als Hauptnahrungsmittel herhalten. Aus dem sehr vitamin-, aber zugleich wasserhaltigen Gewächs, das bisher vorrangig als Schweinefutter diente, wurde jetzt praktisch fast alles hergestellt, was irgendwie auf den Tisch kam: Schnitzel, Frikadellen, Kaffee, Sauerkraut, Dörrgemüse, Marmelade, Kuchen, Aufläufe, Suppen und sogar eine Art Bier.

Derartige Notlösungen waren natürlich äußerst unbeliebt, so daß von den staatlicherseits beschlagnahmten Rübenmengen im Frühjahr 1917 immerhin 80 Millionen Zentner übrigblieben. Zudem besaßen die Kohlrüben, die heute als idealer Schlankmacher gelten, keinen großen Nährwert, weshalb die Kalorienzufuhr des Durchschnittsdeutschen auf etwa tausend Kilokalorien pro Tag, das heißt ein Drittel des Vorkriegswertes beziehungsweise die Hälfte des Mindestbedarfs, sank. Und auch danach blieb die Situation desaströs. Das trug erheblich zu der Streikwelle bei, die ab April 1917 vor allem die Rüstungsindustrie traf. Und 1918 mündeten die Hungerproteste dann sogar in die revolutionären Ereignisse, an deren Ende im November der Kollaps des Kaiserreiches stand. Wobei der Flottenbefehl vom 24. Oktober 1918, die Royal Navy zu attackieren, um die Seeblockade mit Gewalt aufzuheben, sein übriges tat.

Dabei endete der Alptraum für die Deutschen auch nicht mit der Unterzeichnung des Waffenstillstands von Compiègne. Schließlich lautete dessen Artikel 26: „Die Blockade der alliierten und assoziierten Mächte bleibt im gegenwärtigen Umfange bestehen. Deutsche Handelsschiffe, die auf hoher See gefunden werden, unterliegen der Wegnahme.“ Allerdings sagten die Sieger im nachfolgenden Passus zu: „Die Alliierten und die Vereinigten Staaten nehmen in Aussicht, während der Dauer des Waffenstillstands Deutschland in dem als notwendig anerkannten Maße mit Lebensmitteln zu versorgen.“ 

Doch genau das unterblieb. Vielmehr wurde die Lage noch dramatischer, weil sich die Blockade nun auch auf die Ostsee erstreckte und die Briten zudem sogar den Fischfang vor den deutschen Küsten verhinderten. Hinzu kam der Umstand, daß ein gewaltiger Rückstrom von Soldaten und Kriegsgefangenen sowie Vertriebenen (aus den polnisch besetzten preußischen Provinzen Posen und Westpreußen ebenso wie aus Elsaß-Lothringen) einsetzte: dadurch mußte das geschlagene Reich noch mehr Esser versorgen. 

Absicht der Briten, die „Hunnenrasse“ zu schädigen

Desgleichen generierte die Revolution weitere Probleme. Die neu entstandenen Arbeiter- und Soldatenräte griffen nämlich oftmals sehr massiv, aber unfachmännisch in die Belange der Ernährungswirtschaft ein und hemmten die Versorgung damit zusätzlich. So wurde beispielsweise in der Zuckerindustrie der Acht-Stunden-Tag eingeführt, wodurch die Produktion spürbar sank.

Der Hauptgrund für das anhaltende Hungern war indes aber nach wie vor die Blockade. Das Argument der Westmächte, ein Waffenstillstand sei kein Friedensschluß und das Kaiserreich dürfe sich nicht wieder militärisch erholen, war vorgeschoben. Denn letztlich verfolgten die Alliierten zwei ganz andere Ziele. Zum einen gab es die latent genozidale Absicht britischer Politiker, die „Hunnenrasse“ derart zu schädigen, daß sie künftig keine Bedrohung mehr darstelle. Zum anderen diente die Blockade als Druckmittel, um die deutsche Seite zur Akzeptanz des Versailler Vertrages zu zwingen. Dies gestand Kriegsminister Winston Churchill in seiner Unterhausrede vom 3. März 1919 auch ganz offen ein. 

Jedoch hatten die USA zu diesem Zeitpunkt bereits erste Lockerungen der Nahrungsmittelsperre erreicht, weil sie befürchteten, Deutschland werde bolschewisiert, wenn das Hungern anhalte. Ebenso intervenierte General Herbert Plumer, Oberkommandierender der britischen Besatzungstruppen im Rheinland, bei Premierminister David Lloyd George: Seine Männer würden es definitiv nicht mehr lange hinnehmen, mit „Horden von dünnen aufgedunsenen Kindern“ konfrontiert zu sein, die um die Abfälle der Soldaten betteln. Deshalb konnte schließlich am 28. März 1919 die Versorgung Deutschlands auf dem Seewege wieder aufgenommen werden. Eine volle Einfuhrfreiheit bestand jedoch erst ab Juli 1919, nachdem die deutsche Verhandlungsdelegation den Versailler Vertrag unterzeichnet hatte.

Bis dahin waren in Deutschland nach Angaben des Reichsgesundheitsamtes 762.796 Zivilisten an Unterernährung gestorben – diese Zahl liegt um etwa ein Fünftel höher als die der restriktiv geschätzten Opfer des anglo-amerikanischen Bombenterrors im Zweiten Weltkrieg. Außerdem kann man davon ausgehen, daß die mangelnde Nahrungsmittelversorgung mit dazu beitrug, daß weitere 350.000 Deutsche der Spanischen Grippe erlagen. Ebenso sorgte die Hungerblockade für das Ansteigen der Kindersterblichkeit um 50 Prozent, wobei gleichzeitig nur noch halb so viele Kinder auf die Welt kamen wie 1914. Insofern bewirkte die illegitime Aktion Großbritanniens tatsächlich eine massive Schädigung der deutschen Volkssubstanz.