© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/16 / 02. Dezember 2016

Über die Konjunktur der politischen Torheit
Eine Analyse der US-Historikerin Barbara Tuchman neu gelesen im Zeitalter „alternativloser Politik“
Peter Michael Seidel

Historisch gesehen resultieren die meisten politischen Erfolge aus Fehlern des Gegners, im Frieden wie im Krieg. Bismarck wußte dies sehr wohl, wenn er von dem „Mantel der Geschichte“ sprach, den es zu ergreifen gelte. Alles andere hätte dagegen meist nur „das Abschlagen unreifer Früchte“ zur Folge. Der Historiker und Bundeskanzler Helmut Kohl wußte dies, als er nach dem Fall der Mauer mit dem Zehn-Punkte-Plan seine aktive Wiedervereinigungspolitik einleitete. 

Da läßt die Aussage der gegenwärtigen Bundeskanzlerin, sie sehe nichts, was bei ihr eine Umsteuerung in der Flüchtlingspolitik hervorrufen könne, aufhorchen. Interessant ist ihre aktuelle Selbsteinschätzung vor dem Hintergrund, daß Merkel noch im September 2015 bei einer Unionsfraktionssitzung ihre Planlosigkeit in der patzigen Feststellung „Ist mir egal, ob ich schuld am Zustrom der Flüchtlinge bin, nun sind sie halt da“ offenbarte.

Fehlleistungen reißen niemals ab, so daß schon Axel Oxenstierna, schwedischer Reichskanzler zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, seinen Sohn mahnte, er glaube gar nicht, mit wieviel Dummheit die Welt regiert werde. Die Beispiele dafür sind unzählbar und nicht nur auf das 20. Jahrhundert beschränkt. Ob nun die Trojaner das berühmte Unglückspferd in ihre Stadt ziehen, die Renaissancepäpste den Abfall der Protestanten provozieren oder die Briten Nordamerika verspielen. 

Die hier erwähnten Beispiele stammen von Essays, die Barbara Tuchman vor mehr als dreißig Jahren unter dem Titel „Die Torheit der Regierenden“ veröffentlichte. Die in New York geborene spätere Publizistin war zwanzig Jahre alt, als Hitler an die Macht kam. Sie erhielt für ihre historischen Arbeiten zweimal den Pulitzer-Preis, unter anderem für ihr auch in Deutschland bekanntes Werk „August 1914“. Bei ihr gehen Wissenschaft und Publizistik eine harmonische Verbindung ein, die von weitgespannten Interessen und Kenntnissen zeugen und zahlreiche pointierte Einsichten ergeben.  

Besondere politische Torheit ist die Uneinsichtigkeit

Nicht jeder politische Fehler ist eine Torheit, ein Loyalitätsbruch, gar ein Verrat. Torheit hat für Tuchman damit zu tun, daß sie „dem aufgeklärten Eigeninteresse zuwiderläuft“. Doch was heißt das? Für die geschichtsskeptische Nordamerikanerin, ungeachtet der zu ihrer Zeit ungebrochenen optimistischen Ostküstentradition ihres Landes, sind dies vor allem drei Kriterien, die zusammenkommen müssen, um von Torheit sprechen zu können: Erstens müsse sie zu ihrer Zeit, und nicht erst im nachhinein, als kontraproduktiv erkannt worden sein. 

Zweitens könne sie nur dann als töricht bezeichnet werden, wenn es zu ihrer Zeit eine praktikable Handlungsalternative gab, die allerdings oft geleugnet werde. Und drittens solle eine Fixierung auf individuelle Persönlichkeiten vermieden werden, törichte Politik werde von einer oder mehreren Gruppen betrieben. Tyrannen und Diktatoren seien ein „allzu individuell geprägtes Phänomen“, als daß es sich lohnen würde, ihnen „eine verallgemeinernde Untersuchung zu widmen“.

Tuchman unterscheidet zwei Merkmale politischer Torheit. Daß sie häufig, aber nicht immer, der Planlosigkeit entspringt, und daß sich aus ihr vielfach unvorhergesehene Konsequenzen ergeben. Und noch etwas kommt oft hinzu: „Von Torheit kann man erst dort sprechen, wo uneinsichtig an einer Politik festgehalten wird, die nachweislich unwirksam ist oder direkt gegen die eigenen Ziele arbeitet. Das hört sich zunächst sehr theoretisch an, kann aber auf ferne wie nahe historische Ereignisse oder aktuelle Politik angewendet werden.“

Von Mark Twain stammt das hübsche Bonmot, Geschichte wiederhole sich nicht, aber manchmal reime sie sich. Was Twain so salopp ausdrückt, heißt nichts anderes, als daß Geschichte uns vor allem dann interessiert, wenn und soweit sie uns heute noch etwas zu sagen hat, Beispiele, Analogien oder Vorbilder zu liefern vermag. Denn ohne lebhaftes Interesse an der Gegenwart ist man kein Historiker, sondern Archivar. Ganz zu schweigen davon, daß sie keine „exakte“ Wissenschaft ist, auch wenn sie sich wissenschaftlicher Methoden bedient. Wer Geschichtsschreibung auf Statistiken reduziert, tut ihr das Schlimmste an: Er macht sie langweilig und beraubt sie ihrer öffentlichen Aufgabe: Rechenschaft abzulegen über die Zeit, in der wir leben. Kein Wunder, daß bis vor kurzem in Deutschland angelsächsische Historiker die Bestsellerlisten anführten.

Auch wenn Tuchman von längst vergangenen Zeiten schreibt, ist sie doch immer von Sorge um die Gegenwart erfüllt, weiß sie doch, daß auch Demokratien keineswegs vor Torheiten gefeit sind. Dazu muß sie nicht in die Antike zurückgehen, schließlich erkennt die Amerikanerin, daß die Französische Revolution zugleich „den Prototyp eines populistischen Regierungssystems hervorbrachte“. Wer also glaubt, Populismus sei auf Wahlkämpfe oder Parteien beschränkt, wird durch Tuchman eines Besseren belehrt. Gerade heute haben die modernen Methoden der Massenbeeinflussung durch neuartige Werbemethoden und Fernsehen die alten Instrumente von Agitation oder Propaganda nicht nur quantitativ, sondern vor allem qualitativ enorm gesteigert und verfeinert. Das ist nicht mehr nur „Bild, Bams und Glotze“! 

Gerade die linkspopulistische und linkskonformistische Regierungsweise einer Angela Merkel in der gegenwärtigen Asylkrise ist ein eindringliches Beispiel dafür, wie massiv sich ein solcher Regierungspopulismus auswirken kann, zumal wenn er im Gewande des Moralismus daherkommt. Tuchman hätte sich darüber wahrscheinlich ebenso amüsiert wie der von ihr zitierte Macaulay, wonach nichts so lächerlich sei wie die britische Öffentlichkeit, „wenn sie von einem ihrer periodischen Anfälle von Moral heimgesucht werde“. 

Dennoch gelten die Briten als politische Pragmatiker, was für die Deutschen sicherlich nicht gilt. Warum? Uneingeschränkt ist hier Joachim Fest zuzustimmen, daß „in der inbrünstig-überhöhten, kategorischen, an Wirklichkeitskorrektiven nie geschulten (deutschen) Tonlage noch die Spur der Wegverfehlung eines aus seinen Winkeln und provinziellen Beschränkungen ins ‘Ewige’ hinausstrebenden Geistes sichtbar (wird), der seine Gedanken (...) als Vision verstanden wissen will“. Völlig zu Recht sprach deshalb der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt davon, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Oder der Historiker Hagen Schulze, wenn er von dem „für das deutsche politische Denken so kennzeichnendem Realitätshaß und Realitätsverlust“ sprach.

Die ins Land geholte Macht übernimmt die Herrschaft

Den Verrat behandelt Tuchman nicht im Rahmen der von ihr untersuchten Torheiten. Und wenn wir an Hitlers Nero-Befehl denken, mit dem sich seine Vernichtungsabsicht 1945 gegen das eigene Volk kehrte, so gehört er auch nicht dazu. Fraglich ist allerdings, ob sie den Loyalitätsbruch trotz seiner völlig anderen Dimension noch zu den Regierungstorheiten zählt. Sie benutzt den Begriff nicht einmal, behandelt aber Vorfälle, die wir heute als Loyalitätsbrüche erkennen können, wenn zum Beispiel Hilfe von außen gegen Widersacher im Inneren ins Land geholt wird: „Aber so oft es sich im Lauf der Geschichte wiederholte, dieses letzte Mittel zeitigte, wie die byzantinischen Kaiser erfuhren, als sie die Türken ins Land riefen, immer nur ein Ergebnis: die ins Land geholte Macht richtete sich ein und übernahm die Herrschaft.“

Was aber, wenn dies bewußt angestrebt wird? Dies kann nur in einem Fall funktionieren. Wenn die aufnehmende Gesellschaft zu schwach ist, wie Tuchman hervorhebt. Man könnte auch von Gebrochenheit sprechen. Die Diagnose müßte dann lauten: Kein Selbstwertgefühl, keine Selbstachtung, kein Selbsterhaltungswille. Es gibt hier allerdings eine große Gefahr für die Regierenden. Solange das historische Spiel nicht endgültig abgepfiffen ist, ist es auch noch nicht verloren. 

Tuchman zeigt dies am Beispiel der Renaissancepäpste, deren letztendliches Scheitern zur Reformation führte: „In der Mißachtung der Bewegungen und Stimmungen, die sich in ihrer Umgebung ausbreiteten, lag eine erste wesentliche Torheit. Sie waren taub gegenüber dem zunehmenden Unmut, blind gegenüber den aus ihm erwachsenden neuen Ideen, unzugänglich für Fragen und Einwände, fixiert auf die Zurückweisung jeglicher Veränderung und hielten mit einem fast stupide zu nennenden Starrsinn an dem bestehenden, korrupten System fest (...), weil sie aus ihm hervorgegangen und von ihm abhängig waren.“