© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/16 / 09. Dezember 2016

„Demographischer Ersatzbedarf“
Fachkräftediskussion: Das Institut der deutschen Wirtschaft beklagt Arbeitskräftelücke in der Industrie / Flüchtlingsmigration hilft in nur „begrenztem Umfang“
Jörg Fischer

Trotz des Flüchtlingsstroms fordert die Wirtschaft weitere Einwanderung. Besonders laut trommelt Michael Hüther, Direktor des arbeitgeberfinanzierten Instituts der deutschen Wirtschaft (IW): „Ein überzeugendes Zuwanderungsrecht“ würde „Signale in demographiestarke Weltregionen“ senden, denn die Nachwuchsprobleme seien „nicht durch eine Umverteilung der Arbeitskräfte innerhalb Europas“ zu lösen, so Hüther in der Welt.

Doch in den Ländern mit Bevölkerungsüberschuß finden sich, außer in Indien, kaum Fachkräfte oder gar Gestalter der „Industrie 4.0“. Und wer die IW-Studie über „Bedeutung und Chancen der Zuwanderung“liest , bekommt Zweifel, daß für das nächste deutsche Wirtschaftswunder ein Einwanderungsgesetzher muß. Daß die deutsche Industrie MINT-Qualifizierte – also solchen mit Berufen aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik – braucht, ist unstrittig: 2011 waren 9.178.000 MINT-Fachkräfte erwerbstätig. Bis 2013 sank diese Zahl auf 9.106.000, stieg 2014 aber immerhin wieder leicht auf 9.142.900 an, konstatiert das IW. Auch der „demographische Ersatzbedarf“ ist nachvollziehbar, da viele MINT-Akademiker kurz vor dem Rentenalter stehen. Obwohl sich die Arbeitsnachfrage „aufgrund der konjunkturellen Einflußfaktoren nicht für einzelne Jahre exakt vorhersagen“ lasse, wird das IW dennoch konkret: Bis 2019 seien es 53.700 jährlich, bis 2024 59.000 und bis 2029 68.800 MINT-Akademiker, die „rein zur Aufrechterhaltung des Personalbestands“ nötig wären. Bei den MINT-Fachkräften – also solchen mit Lehr- oder Fachschulabschluß – seien es 251.000, 269.200 bzw. 284.800.

Und ganz ohne Einwanderungsgesetz stieg der Anteil der Zugewanderten unter den MINT-Akademikern von 14,3 Prozent (2011) auf 16,6 Prozent (2014) und von 11,9 Prozent auf 13 Prozent bei den Fachkräften. „Insgesamt waren im Jahr 2014 rund 434.500 zugewanderte MINT-Akademiker und 1.186.500 zugewanderte beruflich qualifizierte MINT-Kräfte erwerbstätig“, so das IW. Die Herkunftsländer der Akademiker haben sich etwas gewandelt: 2005 bis 2009 stammten die meisten aus China (6.126), Frankreich (3.610) und Rußland (3.462). 2010 bis 2014 lagen Polen (8.361), Spanien (7.856) und Indien (7.479) an der Spitze. Unter den Fachkräften blieben Polen, Rumänien und Ungarn aber unverändert Spitzenreiter.

Das IW klagt nun, daß Ende Oktober 2016 400.300 MINT-Stellen zu besetzen waren, aber nur 197.377 entsprechende Arbeitslose gemeldet waren. Und da die Flüchtlingsmigration nur in „begrenztem Umfang zur Fachkräftesicherung“ beitrage (5.348 Personen aus Afghanistan, Syrien, Eritrea und dem Irak arbeiteten im März 2016 in einem MINT-Beruf) sei „folglich eine Zuwanderungspolitik notwendig, die gezielt qualifizierte Fachkräfte aus Drittstaaten anwirbt“.

Die Frage, warum nicht junge Deutsche oder Eingebürgerte mit MINT-Stipendien gefördert, sondern Studiengebühren das Wort redet wird, stellt das IW nicht. Und für das Anwerben von Tausenden MINT-Arbeitslosen aus den EU-Krisenstaaten gäbe es eine marktkonforme Lösung: einfach beim Bruttomonatslohn entsprechend nachbessern.

IW-Gutachten „MINT-Herbstreport 2016 – Bedeutung und Chancen der Zuwanderung:  www.iwkoeln.de