© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/16 / 09. Dezember 2016

Die letzte Hexe Europas
Ein Geheimdienst witterte Verrat: Vor sechzig Jahren starb die schottische Wahrsagerin und Geisterbeschwörerin Helen Duncan
Martina Meckelein

Eine Hellseherin, ein Kriegsschiff und ein völlig paranoider Geheimdienst – das sind die Stofflichkeiten, aus denen der letzte Hexenprozeß Europas gebraut wurde. Es ist in der Rückschau ein für die Politik, das Militär und die Rechtsprechung feiges und peinliches Spektakel. Denn die letzte „Hexe“, die rechtskräftig in Eu-ropa verurteilt wurde, starb nicht in Posen (1793) oder auf der Halbinsel Hela (1836), sondern vor genau 60 Jahren total verbittert in Schottland.

Zunächst einmal ist Helen Duncan vorzustellen. Sie war eine korpulente Frau, Mutter von sechs Kindern, die in den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts in England eine bekannte Geisterseherin war. Geboren am 25. November 1897 in Callander (Schottland), verdiente sie ihren Lebensunterhalt mit Okkultismus, Kartenlegen, Handlesen und Geisterbeschwörungen. Okkultismus war zu dieser Zeit in Europa en vogue. Duncans Spezialität war es, mit Toten in Kontakt zu treten, oder wenigstens ihr zahlendes Publikum daran glauben zu machen.

Dann ist da die HMS Barham, ein britisches Kriegsschiff der Queen-Eli-zabeth-Klasse, der schnellen Schlachtschiffe, von denen fünf gebaut wurden. Sie waren stärker gepanzert, hatten eine höhere Feuerkraft, erreichten aber nicht die errechnete Schnelligkeit und hatten wegen des Gewichts einen größeren Tiefgang. Die Barham wurde im Oktober 1915 in Dienst gestellt. Sie beteiligte sich im Ersten Weltkrieg an der Skagerrak-Schlacht. Sie sank im Zweiten Weltkrieg am 25. November 1941 im Mittelmeer vor Ägypten nördlich der Beduinenstadt Sidi Barrani nach drei Torpedotreffern durch U 331. Das Schiff riß 862 Mann in den Tod, 449 Seeleute überlebten. Der Untergang der Barham, den die Royal Navy verheimlichte, ist von einem weiteren Schiff aus dem Kampfverband aufgenommen worden. Ein kurzer Ausschnitt der Versenkung ist auf Youtube zu sehen.

Haftstrafe nach einem Gesetz von 1735

Helen Duncan soll nun während einer Séance 1943 in Portsmouth ein totes Besatzungsmitglied der Barham – identifiziert durch seine Mütze, auf der der Name des Schlachtschiffes stand – in einer Sitzung heraufbeschworen und militärische Geheiminformationen ausgeplaudert haben.

Das rief – und nun kommen wir zum paranoiden Geheimdienst – nach einer Anzeige den MI5 auf den Plan. Der witterte Verrat und Spionage für die Deutschen. Und das zu einem Zeitpunkt, als die Alliierten ihre Invasion in der Normandie planten. Die Moral der Truppe stand auf dem Spiel. Negativ-Schlagzeilen waren da kontraproduktiv. Die Geisterseherin mußte aus dem Verkehr gezogen werden.

Duncan wurde im Januar 1944, also über zwei Jahre nach dem Untergang der Barham, verhaftet. In Portsmouth konnte man aber keine Straftat entdecken, derer sich Duncan schuldig gemacht hätte. Sie wurde nach London ins „Old Bailey“, dem Zentralen Strafgerichtshof überstellt. Aber was sollten die Schlapphüte der Mutter – zwei ihrer Söhne waren übrigens bei der Royal Navy, einer bei der RAF – vorwerfen?

Da kam den Geheimdienstlern ein 200 Jahre altes Gesetz gelegen: der Witchcraft-Act von 1735. Eigentlich ein Gesetz, das den Versuch, Geister der Toten zu wecken, unter Strafe stellte. Es ging noch weiter: Allein die Behauptung, Tote erwecken zu können, wurde unter Strafe gestellt.

Und genau dieses Gesetz wendeten die Geheimdienstler gegen Helen Duncan an. Das Urteil: neun Monate Haft. Sie wurde in das viktorianische Frauengefängnis Holloway überführt und mußte ihre Strafe vollständig absitzen. Insofern agierte der MI5 1944 nicht anders als alle englischen Könige vor ihm. Die Geisteswissenschaftlerin Susanne Pettelkau schreibt in ihrer Dissertation „Go tell Mankind, that there are Devils and Witches“ (2006): „Die Gesetze gegen Hexerei, die in den folgenden Jahrhunderten von den jeweiligen englischen Königen je nach religiöser Ausrichtung verstärkt oder außer Kraft gesetzt wurden, dienten jedoch zu einem großen Teil als politische Druckmittel, um vor allem Gegner der Krone vor Gericht stellen zu können. Verknüpft mit einer Anklage gegen Hexerei wurden in diesen Zeiten oft Verfahren wegen ‘Landesverrates’“.

Das scheint nicht nur für die frühe Neuzeit zu gelten. In diesem Prozeß ging es ebenfalls nicht um Hexenglaube, sondern um Fragen der nationalen Sicherheit. Englands Premier Winston Churchill kassierte das Gesetz erst 1951. Für Duncan kam das zu spät. Sie starb verbittert 1956 in Schottland. Das Urteil gegen sie blieb rechtskräftig.