© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/16 / 09. Dezember 2016

Der absehbare Krieg
Der Angriff der Japaner auf Pearl Harbor war alles andere als überraschend / Ein militärischer Konflikt war sogar von den USA kalkuliert worden
Stefan Scheil

Das Buch hieß: „Weltkrieg im Pazifik – USA gegen Japan“. Der Autor Peter Riebe legte darin 1941 die Gründe dar, warum der Konflikt zwischen beiden Staaten unvermeidlich sei. Wie sehr gerade die USA entschlossen wären, den Krieg zu suchen, das habe die Verlegung der US-Flotte vom amerikanischen Festland nach Hawaii endgültig offengelegt. Ihre Stationierung in Pearl Harbor sei politische Provokation und militärischer Druckaufbau zugleich. Das könne Japan nicht hinnehmen.

Es handelte sich bei Riebes Abhandlung um einen Fall präziser politischer Prognose, denn sie erschien nicht noch eben schnell kurz vor Jahresende 1941, nachdem die japanische Flotte tatsächlich den Stützpunkt Pearl Harbor angegriffen hatten. Sie kam bereits im Januar heraus, also fast ein Jahr vor diesen dramatischen Ereignissen.

Was daher also mit etwas Kennerblick von Mitteleuropa derart offensichtlich erkennbar war, das wollte in Washington und den ganzen USA ein Jahr lang überhaupt niemand bemerkt haben. Der japanische Angriff sei völlig überraschend und aus heiterem Himmel gekommen, er sei überaus hinterhältig gewesen, hieß es. Daher präsentierte sich US-Präsident Franklin Delano Roosevelt dem Volk als persönlich getroffener und vor Zorn stimmlich zitternder Staatschef. Er versprach Vergeltung.

In gewisser Weise trafen hier zwei Kulturen mit völlig unterschiedlichen militärischen und politischen Vorstellungswelten zusammen. In Japan hielt man den Krieg für eine ernste und existentielle Sache, die reiflich überlegt und dann energisch umgesetzt werden sollte. Geplant war daher, den USA unmittelbar vor dem Angriff über die Botschaft in Washington formal den Krieg zu erklären und ihn dann zeitnah zu beginnen. Das scheiterte schließlich knapp, wäre aber konform mit dem Völkerrecht gewesen, denn eine besondere Frist zwischen Kriegserklärung und Kampfhandlungen gibt es darin nicht. Die britische Regierung etwa hatte gegenüber Deutschland zwei Jahre vorher eine Frist von zwei Stunden eingeräumt, bis die Kampfhandlungen am 3. September 1939 begannen. Auch das war formal korrekt. Eine ähnliche japanische Kriegseröffnung wie 1941 hatte schon das Jahr 1904 gesehen, als die russische Ostasienflotte als erste Kriegshandlung angegriffen und versenkt wurde.

Schädigung Japans durch Boykotte und Embargos

In Washington stellte man sich Kriegseröffnungen traditionell ganz anders vor. Der innenpolitischen Tradition folgend, gehörte dazu zunächst einmal der längerfristige öffentliche Aufbau eines möglichen Gegners zum schuldigen Schurkenstaat. Als Abschluß dieses Prozesses folgte dann regelmäßig das, was schließlich zu so viel Mißtrauen gegen amerikanische Kriegsbegründungen geführt hat: die Berufung auf einen Zwischenfall oder einen Übergriff dieses Gegners. Danach fühlte man sich frei zu jedweder Handlung, ob das letzte Ereignis nun wichtig oder überhaupt seriös genug war, um alles zu rechtfertigen, oder eben auch nicht.

Solche Fälle gingen einigen US-amerikanischen Kriegen voraus. So ließ im Januar 1846 der damalige Präsident Polk mexikanisches Gebiet bis zum Fluß Rio Grande besetzen, und als die Mexikaner die US-Truppen einige Monate später von dort zu vertrieben versuchten, erklärte ihnen der Kongreß den Krieg. Der wurde gewonnen und führte zur Eroberung von Millionen Quadratkilomern Land bis zur Küste des Pazifik. 

Das trug dann dazu bei, daß 1854 zum ersten Mal eine amerikanische Flotte vor der bis dahin weltvergessenen japanischen Küste auftauchte und das Land unter Androhung von Waffengewalt „öffnete“. 1898 mußte der Untergang des amerikanischen Schlachtschiffs „Maine“ im damals spanischen Hoheitsgebiet von Havanna auf Kuba als Anlaß für den Krieg gegen Spanien herhalten. Später stellte sich heraus, daß es ein Unfall war. Auch dieser Krieg wurde gewonnen und brachte Land und Stützpunkte bis hin zu den Philippinen ein. 1917 diente die Versenkung des britischen Dampfers „Lusitania“ durch ein deutsches U-Boot zwei Jahre zuvor als Motiv. Auch dies war ein äußerst willkürlicher Akt, hatte der Dampfer doch nicht nur Menschen, sondern eben auch Waffen an Bord und fuhr durch ein erklärtes Sperrgebiet. Seine Versenkung war also gerechtfertigt. 

Die amerikanische Ethnologin Margaret Mead hat es einmal als tief im amerikanischen Charakter verwurzelte Eigenschaft beschrieben, eigene Aggressionen nur als Antwort auf andere rechtfertigen zu können, die man vorher notfalls gesucht habe. Es sei ganz normal, daß sich schon kleine Jungs möglichst provokativ ein paar Münzen auf die Schulter legen würden und dann durch die Straßen stolzierten, bis jemand anstößt und sie herunterfallen: „In Pearl Harbor war es Japan, das uns die Münze von der Schulter schnippte und uns frei für den Kampf machte.“

Im Jahr 1941 verteilte der Präsident der Vereinigten Staaten etliche Münzen an vielen Orten der Welt. Er wußte, was er tat. Er rechnete auch mit militärischen Konflikten, die sich ergeben würden. Viele dieser Münzen sollten die Bewegungsfreiheit Deutschlands in dessen laufendem Krieg gegen Großbritannien einengen. 

Franklin Roosevelts Wahl im November 1940 war intern vom deutschen Diktator noch begrüßt worden, weil wenigstens nicht der Kandidat des großen Geldes gewonnen habe, der Republikaner Wendell Willkie. Wenige Monate später wurden in Hitlers Beisein Konferenzen darüber abgehalten, wie man Roosevelt daran hindern könne, immer weiter in Richtung Krieg zu gehen. Wendell Willkie reihte sich ein, agierte in Roosevelts Auftrag und schrieb bald ein Buch mit dem Titel „One World“. Schließlich behauptete der Präsident, es habe einen deutsch-amerikanischen Zwischenfall im Atlantik gegeben und gab im September 1941 das Feuer auf deutsche Schiffe frei – ohne vorerst aus Berlin eine Antwort zu erhalten.

In Ostasien tat sich Japan mit der Entscheidungsfindung auf den US-Druck ebenfalls schwer. Das Land hatte sich wirtschaftlich übernommen und führte seit 1937 einen Krieg in China, der trotz großer Geländegewinne offenbar nicht zu gewinnen war. Aus ihrer Ablehnung dieses Krieges und der Nichtanerkennung jedweder japanischer Eroberungen dort hatten die USA keinen Hehl gemacht. Innenpolitisch gesehen gab es in Tokio viele, die keinen Konflikt mit Großbritannien oder den USA wollten. 

Als 1939 der Krieg in Europa ausbrach, hielt Japan auch deshalb deutliche Distanz zum „antikommunistischen“ Pakt-Partner Deutschland. Ein Bericht aus der deutschen Botschaft in Tokio sprach davon, die führenden japanischen Wirtschaftskreise würden den Kriegsausbruch durchaus begrüßen, aber nicht um an ihm teilzunehmen, sondern um an ihm zu verdienen.

Letzteres gelang nur sehr begrenzt, zumal die Vereinigten Staaten Mittel und Wege fanden, die japanische Wirtschaft mit Embargos und Boykotten immer mehr zu schädigen. In den japanisch-amerikanischen Verhandlungen des Jahres 1941 kristallisierte sich schließlich heraus, daß Washington auf dem kompletten Abbruch des China-Krieges und dem japanischen Rückzug von dort bestand. Auch alles, was seit dem japanischen Einmarsch in der damals chinesischen Mandschurei im Jahr 1931 und seither durch japanische Truppen besetzt worden war, stand aus amerikanischer Sicht zur Disposition, herrschte doch eigentlich bereits seit 1931 die Kriegsgefahr zwischen beiden Staaten. 

Asymmetrischer Krieg zwischen fremden Kulturen

Am Ende wurde die Frage von Krieg und Frieden in Japan von nur wenigen in der unmittelbaren Umgebung des Kaisers entschieden. Man befand nach langen Beratungen im kleinen Kreis die amerikanischen Bedingungen als zu ehrenrührig, um kampflos nachgeben zu können. Der Militärschlag und die überraschende Besetzung von weiten Teilen Südostasiens sollten die Voraussetzungen für bessere Verhandlungen schaffen und wenigstens das Gesicht wahren helfen. Niemand glaubte, die USA selbst auf deren Territorium angreifen oder militärisch besiegen zu können. 

So eröffnete der Angriff auf Pearl Harbor unter manchen Aspekten einen asymmetrischen Krieg zwischen zwei fremden Kulturen. Zwischen der einen, die sich Jahrhunderte freiwillig isoliert und sogar durch gesellschaftliche Ächtung den Gebrauch von Schußwaffen wieder abgeschafft hatte. Und der anderen, die mit Kanonen an die japanische Tür geklopft hatte und eine Politik der „Einen Welt“ verfolgte, in der es solche Isolationen nicht mehr geben durfte. In der Tat, dieser dann bis zum Äußersten ausgetragene Konflikt war absehbar.