© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/16 / 09. Dezember 2016

Der Flaneur
An zerwühlter Stätte
Bernd Rademacher

Bauarbeiter haben die gewohnte Strecke für Jogger, Gassigeher, Radfahrer und ältere Walkerinnen mit rot-weißen Banketten versperrt. Hier kündigt sich die Großbaustelle an, die den verschlafenen Fleck in den nächsten Jahren umkrempeln wird. Anstelle der Wiese am Weg, die in den Sommermonaten ein großer Grillplatz war, haben Bagger mit tiefen Reifenprofilen das grüne Gras untergepflügt. Der gemütliche Pfad ist zur Zufahrtsstraße für die Baufahrzeuge geworden.

Einige haben nachts Blumen und Grablichter auf den Baumstümpfen hinterlassen.

Neben Betonröhren, durch die man aufrecht gehen könnte, liegen die abgeholzten Bäume. Hier standen alte Eichen, Buchen und eine große Kastanie. Das Fällen hat die Anlieger aufgebracht! Es flossen sogar Tränen. Einige haben nachts Trauerblumen und Grablichter auf den Baumstümpfen hinterlassen. Man kann in Deutschland alles machen – aber wehe, es wird ein Baum abgeholzt!

Das muß ein genetisches Erbe sein: Von den heiligen Hainen der Germanen über die Dichter der Romantik bis zu den Demonstranten gegen Stuttgart 21 – wir Deutsche haben ein spirituelles Verhältnis zu Bäumen. Schon der erste karolingische Missionar dieser Gegend wurde von den Sachsen totgeschlagen, weil er die Axt an ihre heilige Kult-Eiche gesetzt hatte.

Vielleicht haben die Bauarbeiter das Gelände auch deshalb abgesperrt. Doch am Wochen­ende erobern die Spaziergänger die verbotene Zone zurück. Sie sind wie Wasser: Sie bahnen sich ihren Weg. Schon sind neben den Banketten Trampelpfade entstanden, die um die Verbotsschilder herum auf den gewohnten Weg führen. Bald sind einige Bankette gefallen, das Flatterband zerrissen. Eine Mutter manövriert ihren Kinderwagen über die am Boden liegende Absperrung, wie über eine Wippe. Es wird schon dunkel, als eine alte Frau verloren mit ihrer Einkaufstasche über die zerwühlte Stätte heimwärts geistert, wie durch eine Trümmerlandschaft im Krieg.